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teribloG Rezensionen #1 (2007-2009)


Inhalt

"Ich lebe! Das ist ein Wunder." Schicksal einer Münchner Familie während des Holocaust, hgg. vom Stadtarchiv München, München 2001.
Wolfram Selig: Leben unterm Rassenwahn. Vom Antisemitismus in der "Hauptstadt der Bewegung", Berlin 2001.
Ilse Sponsel: Gedenkbuch für die Erlanger Opfer der Shoa, Erlangen 2001.
Gisela Blume: Gedenke - Remember - Yizkor. Zum Gedenken an die von den Nazis ermordeten Fürther Juden 1933 - 1945. Hg. vom Komitee zum Gedenken der Fürther Shoah-Opfer, Fürth 1997.
Edgar Hubrich, Wilhelm Veeh: Die Judenmatrikel 1813 - 1861 für Mittelfranken. Bearb. von der Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V. und dem Staatsarchiv Nürnberg. München-Nürnberg 2003.
transversal 2/2003. Zeitschrift für Jüdische Studien. Hg. vom Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz.
Anthony M. Platt, Cecilia E. O'Leary: Bloodlines. Recovering Hitler’s Nuremberg Laws. From Patton’s Trophy To Public Memorial. Paradigm Publishers, Boulder (CO) 2006.
teribloG Rezensionen seit 2007
politikorange - extrem*. Magazin zum Projekt „Medien mit Mut“, hg. vom Jugendpresse Deutschland e.V. und von der Amadeo-Antonio-Stiftung. Ausgabe Frühjahr 2007.
Franziska Knöpfle: Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg, Nürnberg 2007.
Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933, München 2006.
Peter Kuhn: Jüdischer Friedhof Georgensgmünd. (= Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.): Die Kunstdenkmäler von Bayern. Neue Folge, Bd. 6). Deutscher Kunstverlag, München, Berlin 2006.
Ulrike Goeken-Haidl: Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2006.
Tessa Debus, Regina Kreide, Michael Krennerich, Anja Mihr (Hg.): zeitschrift für menschenrechte / journal for human rights. Jg. 1, Nr. 1 (2007).
Gisela Naomi Blume: Der alte jüdische Friedhof in Fürth 1607 - 2007. Geschichte - Riten - Dokumentation.
Bezirk Mittelfranken (Hg.): Juden in Franken 1806 bis heute. Ansbach, 2. Aufl. 2007.
Falk Wiesemann: Judaica bavarica. Neue Bibliographie zur Geschichte der Juden in Bayern, Essen 2007.
Jerry Nothman: Lucky Me. Vom Nationalsozialismus und Holocaust in Deutschland zu Frieden und Gelassenheit in den USA.
Jacob Rosenthal: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt / New York 2007.
Robert Schlickewitz: Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“. Sinti und Roma in der bayerischen Geschichte. 214 S. Deggendorf, 2. Aufl. 2007.
Christoph Friedrich (Hg.): Zwangsarbeit in Erlangen während des Zweiten Weltkriegs, Erlangen 2007.
Bund jüdischer Soldaten (RjF) e.V. (Hg.): Der Schild. 2. Jg., Nr. 2, Berlin, 1. Juni 2008.
Holger Klitzing: The Nemesis of Stability. Henry A. Kissinger’s Ambivalent Relationship with Germany, Trier 2007.
Herbert May (Hg.): Zwangsarbeit im ländlichen Franken 1939 - 1945. Bad Windsheim 2008.
Johann Fleischmann: Mesusa 6. Dr. Manfred Moses Haas. Mühlhausen 2008.
Meier Schwarz, Katrin Bielefeldt: Der Synagogensucher. Lebenserinnerungen zwischen Nürnberg und Palästina. Sandberg-Verlag, Nürnberg 2006.
Herbert Dommel: Vom Händler zum Pinselfabrikanten. Die Familien Schloß & Steindecker. Jüdische Arbeitgeber in Bechhofen. Ein biografischer Versuch mit geschichtlichen Nachweisen. ISBN 3-9808482-4-8 (= Lokale Aktionsgruppe Altmühl-Wörnitz e.V. (Hg.): Kleine Schriftenreihe Region Hesselberg Bd. 5. Unterschwaningen 2008).
Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman. Aufbau Taschenbuch Verlag. 2. Aufl., Berlin 2003.
Peter Kuhn: Zeugnisse jüdischer Kultur in Ichenhausen, Ichenhausen 2009.
Richard Švandrlík sen.: Juden in Marienbad, Mariánské Lázne 2004 / Richard Švandrlík jun.: Die Geschichte der Juden in Marienbad. CD (PDF-Format), Stand 06.08.2009.


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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 11.10.2009

Titel: Richard Švandrlík sen.: Juden in Marienbad. 52 S., 46 Abb. (sw). Mariánské Lázne 2004.

Richard Švandrlík jun.: Die Geschichte der Juden in Marienbad. CD (PDF-Format). Stand 06.08.2009.

Bezug & Kontakt: Richard_svandrlik[at]web.de

 

 

 

 

 

Ansichtskarte der Wandelhalle in Marienbad (Montage), etwa 1908
(Foto: Richard Švandrlík jun.)

Vater und Sohn Švandrlík haben sich der Erforschung einer faszinierenden untergegangenen Welt verschrieben: des Lebens im internationalen Kurort Marienbad (Mariánské Lázne) und insbesondere des Anteils, den jüdische Einwohner und Gäste daran hatten. Das Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Arbeit ist ein einzigartiger Fundus an Expertenwissen und schriftlichen sowie visuellen Dokumenten, der den schillernden Mikrokosmos wieder erstehen lässt, den die Nazis durch die Besetzung Böhmens und Mährens 1938/39 für immer zerstört haben. Ob Sigmund Freud, Franz Kafka, Scholem Alejchem, Gustav Mahler oder der englische König Eduard VII., sie alle besuchten das mondäne Kurbad ebenso wie eine Vielzahl orthodoxer Juden aus Galizien im Gefolge ihrer Rabbiner, für die eine entsprechende Infrastruktur streng koscherer Unterbringungs- und Verköstigungsmöglichkeiten geschaffen wurde. Ihre verstärkte Präsenz in den böhmischen Kurorten Marienbad, Karlsbad und Franzensbad führte zur Herausbildung eines besonderen kulturgeschichtlichen Phänomens, der Bildpostkarte mit (ost-)jüdischen Stereotypen, deren Motive sich in der Bandbreite von der folkloristisch gefärbten Genredarstellung bis zu unverhohlenem Antisemitismus bewegten. Die Sammlung und differenzierte Analyse dieser seltenen Fundstücke ist die Domäne des jüngeren Švandrlík, was seine CD - ein angemessenes Medium für ein ständiges „work in progress“ - zu einer optisch überaus reizvollen Fundgrube für die „bessere Gesellschaft“ der Zeit vor 1914, v.a. des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, macht.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 26.08.2009

Titel: Peter Kuhn: Zeugnisse jüdischer Kultur in Ichenhausen. 36 S., zahlr. Abb. Ichenhausen 2009 (= Sonderdruck aus: Georg Kreuzer, Claudia Madel-Böhringer (Hg.): Ichenhausen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band I. Ichenhausen 2007). Erhältlich bei: Ehemalige Synagoge Ichenhausen, Heinrich-Sinz-Straße 14, 89335 Ichenhausen.

 




Bei diesem Autor selbstverständlich quellen- und literaturgesättigt (132 Fußnoten für 31 Textseiten) bietet die Broschüre Beschreibungen der ehemaligen Synagoge (Bau, Inventar, Ritualien) und rituellen Tauchbäder (Mikwen), des Inhalts der auf dem Synagogendachboden gefundenen Genisa mit ihrem Spezifikum einer großen Menge von Thorawimpeln als biographischer und volkskundlicher Quelle, des Rabbinatsgebäudes, Schulhauses, Armenhauses und ehemals jüdischer Privathäuser, des Friedhofs sowie zweier früher Drucke aus den Jahren 1543/44, einer davon, ein jüdischdeutsches Frauengebetbuch in hebräischer Schrift, interessanterweise mit den Rubra eines christlichen Vorbesitzers versehen, z.B. „Diß seind gute lere auch ainem Christen zu mercken.“ Abschließend finden die bis ins späte 20. Jahrhundert bei der älteren Generation der christlichen Bevölkerung noch vorhandenen jüdischdeutschen Sprachreste Erwähnung.

Auf der Grundlage breitester Kenntnisse der Judaistik und ihrer zur Erforschung des bayerisch-schwäbischen Landjudentums nötigen Nachbardisziplinen (Landes-, Architektur- und Kunstgeschichte, Volkskunde etc.) und einem scharfen Blick für die relevanten Einzelheiten belegt Kuhn die angesichts der jahrhundertlangen Tradition der Gemeinde beklagenswert geringen materiellen Überreste, von denen viele erst nach 1945 durch Gedankenlosigkeit und fehlendes bzw. falsches Geschichtsverständnis zerstört oder vom Ort ihrer Entstehung entfernt wurden. Umso wichtiger ist der hier gemachte Versuch, die Sachkultur dieser in vielem typischen und ihrer regionalen Bedeutung hervorgehobenen jüdischen Landgemeinde, die seit dem 19. Jahrhundert Sitz eines Distriktsrabbinats war, zumindest virtuell zu rekonstruieren. Durch die erschöpfenden sprachlichen und funktionalen Informationen über die Objekte, z.B. verschiedenste Ritualien in der Synagoge und Privathaushalten oder Grabinschriften, wird der Text auch für den zur lohnenden Lektüre, der sich allgemein für die Kultur und den Alltag der bayerischen Juden vor 1945 interessiert.

Link:

Peter Kuhn: Jüdischer Friedhof Georgensgmünd

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 22.08.2009

Titel: Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Roman. Aufbau Taschenbuch Verlag. 2. Aufl., Berlin 2003. 878 Seiten. ISBN 3-7466-5606-0.

 

 

Dies ist keine hoffnungslos verspätete Rezension des 1930 erschienenen, schlicht großartigen Feuchtwanger-Buches, über das Kritik-Titanen wie Arnold Zweig schon vor mehreren Menschenleben wortmächtig geschrieben haben. Nur soviel: Jeder, der verstehen will, was unmittelbar vor und nach dem stümperhaft gescheiterten Bierkellerputsch Hitlers am 9. November 1923 in Bayern bzw. München geschehen ist, wie die Leute damals lebten, fühlten und dachten, muss diesen Roman lesen, in dem das komplette politische und kulturelle Führungspersonal der damals gärenden Landeshauptstadt aufmarschiert, literarisch bearbeitet, aber umso schärfer konturiert: Hitler, Thoma, Ganghofer, Prinz Ruprecht, Generalstaatskommissar von Kahr (vom Mittelfranken zum Altbayern mutiert), Karl Valentin, Lisl Karlstadt etc. pp.

Die einmalige Qualität von „Erfolg“ - ein seltsam blasser Titel für ein kraftvolles, manchmal mitreißendes Buch voll empathischer Ironie für (Alt-)Bayern und München, wohl Ausdruck der neusachlichen Epoche, in der es entstand - liegt in der Verbindung von Zeitzeugenschaft und hoher Erzählkunst. Es ist das blitzartige Aufleuchten einer Literatenspezies, die ausgelöscht wurde, bevor sie Wurzeln schlagen konnte: des bayerisch-jüdischen Erzählers mit leidenschaftlicher Hassliebe für seine Stadt. In jenen Jahren hätte eine Tradition begründet werden können - die Einsicht des kundigen, eingeborenen Außenseiters, der die Sprache des Volkes und seinen Charakter versteht, der deshalb in seiner Schilderung auch Weißwürste, Lederhosen und Gemütlichkeit zwanglos mit dem Hang zu Gewalttätigkeit und Hinterfotzigkeit kombinieren kann, kondensiert im provokativen angeblichen Münchner Wahlspruch „Bauen, Brauen, Sauen.“

Die Richtigkeit seiner Erkenntnisse zeigt sich darin, dass es nicht viel Abstraktionsvermögen bedarf, um in Feuchtwangers Beschreibung des spezifisch bajuwarischen Zusammenspiels zwischen Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Justiz eine ungebrochene Kontinuität bis in die Ära FJS zu erkennen - katholische Kirche und Monarchie wurden schon von ihm als Relikte gesehen, von denen sich selbst ein so konservatives Staatswesen wie Bayern früher oder später wegen schwindender Bedeutung emanzipieren musste -, das heute zwar unter dem erdrückenden Übergewicht des erstgenannten Faktors zerbröselt wie eine alte Brezel auf dem Wirtshaustisch, dessen Funktionsmechanismen aber noch immer wirksam sind, will man hierzulande „Erfolg“ haben.

Im Rückblick gilt für diesen Roman, der wie ein in ihm genanntes fiktives Werk besser „Das Buch Bayern“ heißen sollte, dasselbe wie für Hitlers „Mein Kampf“: Wenn man es rechtzeitig gelesen hätte, hätte man wissen können, was noch kommt. Denn auf die Frage des Kasperl, „Seid ihr alle da?“, antworten die bestimmenden Zirkel, Cliquen, Dynastien und Seilschaften, deren Mitglieder nach Königreich, zwei Weltkriegen, roten, weißen und braunen Revolutionen, Holocaust, „Wirtschaftswunder“ und sechzig Jahren Bundesrepublik unverdrossen wie die Fettaugen auf der Leberknödelsuppe schwimmen, immer mit: „Ja!“

Nebenbei suggeriert die gelesene Textfassung eine weitere Verschwörungstheorie, weshalb es mit einer von München ausgehenden Revolution nichts werden konnte: Es lag an den fiesen Druckfehlern. So kumuliert der Gedankenflug des zeitweilig mit den Roten sympathisierenden Kleinbürgersohns und Theaterbeleuchters Benno Lechner in dem Satz (S. 522): „Er dachte an die Revolution, die auch hier einmal losbrechen muß, und wie er Schweinwerfer hinleuchten lassen wird über die großen Plätze, während hunderttausend Menschen die Internationale singen.“

Das ADS des Lektors bzw. die gescheiterte Rechtschreib- und Syntaxprüfung mittels Software bewahren auch die manchmal in ihrer urwüchsigen Integrität schwer erträgliche weibliche Hauptfigur Johanna Krain (wenig verhohlen eine bayerische Jean d’Arc - Männer sollten nie über die Gefühlswelt von Frauen schreiben) vor zuviel Pathos (S. 560): „Da stand diese junge bayrische Frau inmitten ihres Landes [driö!]. Sie hat die Mütze abgerissen [und sich einen Lorbeerkranz aufgesetzt - nö, sondern:], leichter Wind fährt ihr angenehm aber den Kopf.“ Vielleicht ist das gar kein Fehler, denn durch das ungefügte, den Satzbau keck durchbrechende Aber entsteht ein reizvolles Gegensatzpaar: Wind wider Kopf.

Allerdings gehen auch dem politischen Feind in Person des Münchner Industriemagnaten und politischen Strippenziehers von Reindl in Anbetracht der Möglichkeiten, die sich ihm in der Hyperinflation der frühen zwanziger Jahre bieten, laut Aufbau Taschenbuch Verlag die Konsonanten durch (S. 667): „Man muß klaren Kopf behalten, das Geld unterzubringen, das Fließende verwandeln in neuen Besitz, nette Werke, neues Land.“ So wird dank OCR-Scannen ein verbatzeltes U als strammes Doppel-T in der deutschen Literaturgeschichte verewigt.

Jacques Tüverlin schließlich, der männlichen Hauptfigur, unverkennbar eine leicht idealisierte Athletenausgabe des Autors, ist der Anführer der russischen Oktoberrevolution nur als „N. Lenin“ (S. 838) geläufig. Wurde hier aus einem engstehenden W.L. für Wladimir Iljitsch bei der digitalen Übernahme ein „Nordpol“ oder führte der Schlawiner weitere Aliasnamen (Nikolai, Norbert - Nepomuk)? Sollen wir tatsächlich glauben, dass Feuchtwanger den Vor- und Vaternamen eines seiner berühmtesten Zeitgenossen nicht kannte und deshalb N für Nomen (Nominandum) schrieb?

Solche unfreiwillige Schmankerl, die von einer gewissen sprachlichen und historischen Desorientierung in der sonst allwissenden Kapitale Berlin zeugen, bieten dem aufmerksamen Leser, der sich durch fast 900 Seiten gekämpft hat, Anlass zu wohlwollendem Frotzeln, nach mehrfachem Bekunden im nichts desto weniger lesenswerten „Erfolg“ einem Münchner Volkssport, vor allem angesichts der leutseligen Versicherung des Nachworts (S. 878): „Druckfehler wurden korrigiert.“ - „Hoppla, Herr Nachbar!“, sagt da mit Feuchtwanger wadlbeißend der Klein- zum Großverleger.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 12.06.2016

Titel: Herbert Dommel: Vom Händler zum Pinselfabrikanten. Die Familien Schloß & Steindecker. Jüdische Arbeitgeber in Bechhofen. Ein biografischer Versuch mit geschichtlichen Nachweisen. ISBN 3-9808482-4-8 (= Lokale Aktionsgruppe Altmühl-Wörnitz e.V. (Hg.): Kleine Schriftenreihe Region Hesselberg Bd. 5. Unterschwaningen 2008). 82 S., zahlr. Abb. Kontakt: Herbert.Dommel[ät]t-online.de

 

 

In seinem ansprechend aufgemachten und in angenehm zurückhaltendem Ton verfassten Buch rollt der Autor, Heimatpfleger des Marktes Bechhofen, anhand amtlicher und privater schriftlicher Quellen sowie Aussagen von Zeitzeugen die sozial- und wirtschaftsgeschichtlich für Westmittelfranken exemplarische Geschichte der beiden im Titel genannten, miteinander verschwägerten Familien, aber auch anderer ehemaliger jüdischer Einwohner des Ortes auf.

Organisch wuchs die jüdische Bevölkerung der ehemals zum Markgrafentum Ansbach gehörenden Gemeinde im 19. Jahrhundert aus dem Landesproduktenhandel in die Fabrikation und den Vertrieb von Pinseln und Bürsten hinein mit ihrem starken Anteil an Heimarbeit, einem regionalen Spezifikum der Industrialisierung, das noch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterwirkte. Die internationalen Beziehungen der Fabrikanten- und Großhändlersfamilien bis nach England und in die USA verschafften dabei dem kleinen fränkischen Marktflecken den Ruf einer Welthauptstadt der Pinselmacherei.

Ihrer wirtschaftlichen Bedeutung entsprechend waren die Schloß, Steindeckers, Bechhöfers, Schüleins, Wohlfarths und andere in das dörfliche Gesellschaftsleben integriert, übten Funktionen in den Vereinen aus, waren Gemeinderäte und machten sogar Stiftungen zu einem Kirchenneubau. Diese gewachsenen Strukturen wurden durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten jäh zerstört, was der Autor in seiner Darstellung nicht unterschlägt: Bereits am 14. September 1938 kam es in Bechhofen zu einer pogromartigen Vertreibungsaktion der letzten jüdischen Bewohner durch die SA, am 9. November des Jahres ging die berühmte Scheunensynagoge mit ihrer einzigartigen Innenausmalung von Elieser Sussmann in Flammen auf. Bezeichnenderweise kam der Initiator dieser Kulturschande, ein Lehrer, danach in die Ansbacher Irrenanstalt.

Dommels Vom Händler zum Pinselfabrikanten leistet auf der Ebene der Grassroots-Forschung einen wertvollen Beitrag, der über den engeren Bereich hinausgeht: Gäbe es vergleichbar solide Arbeiten von Kennern der jeweiligen Gegebenheiten über die zahlreichen jüdischen Landgemeinden Mittelfrankens und ihre Mitglieder, so könnte aus ihnen das Bild einer Geschichtslandschaft nachgezeichnet werden, für deren Entwicklung diese Bevölkerungsgruppe bis zu ihrer Vertreibung und Vernichtung besonders wichtig war. Die Sammlung und Erschließung der wenigen noch erhaltenen Zeugnisse ihrer Existenz ist die lohnendste und verdienstvollste Aufgabe der Lokalforscher.

Links:

Herbert und Claudia Dommel: Markt Bechhofen an der Heide. Biographisches Gedenkbuch an die Opfer der Schoa und deren Familien

Website Lokale Aktionsgruppe Altmühl-Wörnitz e.V.

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Autor: Herbert Kolb

Datum: 18.02.2009

Titel: Meier Schwarz, Katrin Bielefeldt: Der Synagogensucher. Lebenserinnerungen zwischen Nürnberg und Palästina. Sandberg-Verlag, Nürnberg 2006. 104 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-930699-48-3.

Beim ersten Durchblättern überrascht der schmale Band mit den von Katrin Bielefeldt um „historische Beiträge“ ergänzten Erinnerungen des gebürtigen Nürnbergers Prof. Meier Schwarz (Jerusalem) mit vielen authentischen Fotos und schriftlichen Dokumenten, die darin wiedergegeben werden. Der Schreibstil ist gefällig und entspricht in seiner Sachlichkeit meinem Empfinden, also dem eines anderen (wenig älteren) Zeitzeugen, der viele der in Schwarz’ Bericht beschriebenen Ereignisse und Personen miterlebt bzw. selbst gekannt hat. Doch gerade in der Fülle dieser Details, die naturgemäß nicht immer nachprüfbar sind, steckt das Problem des Buches. Hierzu folgende Beispiele:

S. 20: Der Lehrer Robert Einstädter wurde am 23. April 1942 nicht ermordet, sondern deportiert.

S. 22 f.: Das koschere Restaurant Plaut existierte meiner Erinnerung nach über 1932 hinaus bis mindestens in die Mitte der dreißiger Jahre. Im Buch selbst (S. 55) wird es als noch im November 1938 bestehend genannt.

S. 28: Wie im Falle des Lehrers Einstädter können Onkel und Tante des Autors nicht an ihrem Deportationstag ermordet worden sein, zumal wenn der über der betreffenden Textstelle abgebildete letzte Brief aus ihrem Heimatort sieben Tage später datiert ist.

Solche Ungereimtheiten lassen einen bei der weiteren Lektüre vorsichtiger werden. Tatsächlich drängt sich an manchen Stellen der Eindruck auf, dass sich hier selbst Erlebtes und nachträglich Gehörtes oder Gelesenes vermischen:

S. 38: „Onkel Leopold sorgte dafür, dass Herr Weil die Grenze nach Frankreich bei Saarbrücken übertreten konnte.“ Aus meiner Kenntnis der damaligen Verhältnisse frage ich mich, wie er dies ohne Pass und Visum bewerkstelligen konnte. Natürlich kann man diese Aussage weder be- noch widerlegen.

S. 40: Die Geschichte von dem blonden jüdischen Mädchen, das von einem fanatischen Nazilehrer irrtümlicherweise für eine „Arierin“ gehalten wurde, kenne ich vom Lyzeum am Frauentorgraben in Nürnberg, das meine im Holocaust ermordete Cousine besuchte. Eine zufällige Duplizität der Ereignisse an zwei verschiedenen Orten? Die an den Vorgängen im Nürnberger Lyzeum Beteiligten kannte ich persönlich, bei Schwarz heißt das Mädchen nur Else, ohne Nachnamen.

S. 45: „... Ausflüge waren für Juden [1936] schon nicht mehr erlaubt.“ Da ich selbst noch bis 1938 mehrtägige Fahrradtouren unternommen habe, kann ich diese Aussage keinesfalls bestätigen.

S. 49: Sämtliche jüdische Schulen und Umschulungswerkstätten in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei wurden bereits im Mai 1941 geschlossen, nicht erst im Juli 1942.

S. 61: Es ist reine Spekulation des Autors, dass sein älterer Bruder deshalb nicht auswandern durfte, weil er bereits über 16 Jahre alt war und „er später als Soldat gegen Deutschland kämpfen könnte“. Fest steht nur, dass er in diesem Alter nicht mehr für einen „Kindertransport“ nach England infrage kam.

S. 64: Es gibt keine Kreuzung der Oberen Kanalstraße mit der Rothenburger Straße, also kann dort auch kein „Stürmer“-Kasten gewesen sein. Meiner Erinnerung nach hing ein solcher allerdings in der Nähe der Einmündung der Oberen Kanalstraße in die Fürther Straße, zwischen ersterer und Imhoffstraße, wo sich ein stadtbekanntes Nazilokal befand. - Koscheres Fleisch konnte trotz des bayerischen Schächtverbotes von 1930 bis Kriegsbeginn noch aus dem Ausland, z.B. Holland und Ungarn, bezogen werden.

S. 67: Auf dem jüdischen Friedhof an der Schnieglinger Straße lebten bei Kriegsende lediglich die Familie Baruch, da sie bereits seit Mitte der dreißiger Jahre Friedhofswärter waren, und das Ehepaar Hamburger, das kurz vorher ausgebombt worden war.

Was Prof. Schwarz nach dem Zeitpunkt seiner Ankunft in Palästina / Israel schreibt (S. 69 ff.), entzieht sich meiner Beurteilung. Allerdings teile ich seine Erfahrungen, die er bei der Suche nach Plätzen früheren jüdischen Lebens in Deutschland machte (S. 96 ff.). Trotzdem verstehe ich nicht, warum er erfundene Ortsnamen verwendet. Wer muss hier vor wem geschützt werden?

Insgesamt ist es schade, dass ein so flüssig geschriebenes Buch so viele inhaltliche Mängel aufweist und beim Leser deshalb insbesondere in den Teilen Skepsis zurücklässt, die nicht anhand anderer Quellen verifizierbar sind.

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Autor: rijo

Datum: 28.01.2009

Titel: Johann Fleischmann: Mesusa 6. Dr. Manfred Moses Haas. Mühlhausen 2008. gebunden, 414 S., 241 z.T. farbige Abb. ISBN 978-3-933623-14-0. 20 EUR.

 

 

In Mesusa 6 wird die wechselvolle Lebensgeschichte von Dr. med. Manfred Haas, seiner Frau Olga, geb. van Wien, und ihrem Sohn Hans Otto ausführlich anhand zahlreicher Quellen nachgezeichnet. Dr. Haas’ (geboren am 03.01.1885 in Mühlhausen) Biografie führte ihn über Erlangen, Würzburg, die Westfront im Ersten Weltkrieg und München nach Leipzig, von wo er 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. 1944 brachten ihn die Nazis in Auschwitz um.

Außerdem berichtet der Jahresband für 2008 über die vielfältigen Aktivitäten des „Arbeitskreises Jüdische Landgemeinden an Aisch, Aurach, Ebrach und Seebach“, so von der Mitwirkung bei Projekten anderer Träger und den Kontakten zu jüdischen Familien, die aus seinem Einzugsbereich stammen.

Links:

Mesusa 7 (2010)

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Autor: rijo

Datum: 29.12.2008

Titel (Selbstanzeige): Herbert May (Hg.): Zwangsarbeit im ländlichen Franken 1939 - 1945. Bad Windsheim 2008. 333 S., zahlr. Abb. ISBN 978-3-926834-69-0 (= Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums in Bad Windsheim Bd. 54).

 

 

Etwa 200.000 bis 250.000 ausländische Zivilarbeiter und zahlreiche Kriegsgefangene haben zwischen 1939 und 1945 in Franken arbeiten müssen, darunter ein sehr großer Teil in der Landwirtschaft. Das Buch wirft Schlaglichter auf den Lebens- und Arbeitsalltag der Zwangsarbeiter auf den Bauernhöfen und auch auf den brutalen und gnadenlosen Repressionsapparat des NS-Regimes im Umgang mit den zwangsverpflichteten Ausländern. Doch auch die Nachkriegszeit ist ein Thema, als die Betroffenen in Lagern auf ihre Rückkehr in die Heimat warteten, und ihrer lange vergeblichen Erwartung auf Entschädigung erst vor wenigen Jahren mit Gründung der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ entsprochen wurde.

Über 50 Zeitzeugen wurden ausführlich befragt, darunter auch viele ehemalige Zwangsarbeiter, die nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in Franken geblieben sind und hier Familien gegründet haben. Im Zuge aufwändiger Quellenstudien wurde erstmals versucht, das quantitative Ausmaß des „Arbeitseinsatzes“ der Zwangsarbeiter wie auch der wegen „unerlaubter Beziehungen“ zu deutschen Frauen oder Bagatelldelikten vollzogenen Hinrichtungen von Zwangsarbeitern zu ermitteln - immer bezogen auf den fränkischen Raum. Zahlreiche, bislang meist unveröffentlichte Abbildungen - überwiegend aus privaten Archiven - veranschaulichen die Darstellung.

Das Buch enthält den Beitrag von Gerhard Jochem: „Langenzenn. Auch so ein Name mit bösem Klang“: Ein „Arbeitserziehungslager“ im ländlichen Mittelfranken. S. 214 - 235.

Links:

Website des Fränkischen Freilandmuseums Bad Windsheim

rijo: Zwangsarbeit in Nürnberg - Fakten statt Verdrängung

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 22.12.2008

Titel: Holger Klitzing: The Nemesis of Stability. Henry A. Kissinger’s Ambivalent Relationship with Germany. WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2007. XIV & 515 S. ISBN 978-3-88476-942-3. EUR 49,50.

 

 

Die biographischen Bezüge Henry Kissingers zu Deutschland sind ebenso bekannt wie sein außenpolitisches Wirken, seit 1968 zunächst als Nationaler Sicherheitsberater unter Präsident Richard Nixon und von 1973 bis 1977 als dessen Außenminister und in der Administration seines Nachfolgers Gerald Ford. Umso erstaunlicher erscheint es, dass sich bis zu dieser umfangreichen, die amerikanischen und deutschen Quellen amtlicher und privater Provenienz sowie die Literatur erschöpfend auswertenden Heidelberger Geschichtsdissertation von 2006 noch niemand auf beiden Seiten des Atlantiks dem im Untertitel formulierten Thema gewidmet hat. Doch vor Klitzing unterzog sich kein Historiker der Mühe, den Zusammenhang zwischen Kissingers persönlichen Erfahrungen, der daraus gewonnenen geschichtsphilosophischen Weltsicht und deren Ergebnissen als Theoretiker und politischer Akteur, den der Autor zutreffend als „one of the most interesting political figures of Cold War diplomacy“ bezeichnet, minutiös darzustellen.

Heinz Kissinger musste im August 1938 zusammen mit seiner Familie seine Geburtsstadt Fürth verlassen. Damals 15 Jahre alt hatte er die stufenweise Marginalisierung der jüdischen Bevölkerung seit 1933 bewusst wahrgenommen, die mit seinem individuellen Reifeprozess zusammenfiel, auch wenn er rückblickend jede Dramatisierung seiner Erlebnisse in Franken vermied. Der Autor stellt hierzu die schlüssige These auf, dass die Erfahrungen mit der aus der Sicht der Betroffenen alle Normen erschütternden und somit revolutionären NS-Ideologie Kissingers spätere außenpolitische Zielsetzung von „Stability and Order“ entscheidend vorbestimmten, damit logisch verbunden einen konservativen Wertekodex und eine pessimistische Einstellung gegenüber den historischen Tendenzen, so man ihnen freien Lauf lässt. Diese in seinen akademischen Schriften ausformulierten Standpunkte mussten ihn zeitbedingt folgerichtig zu einem strikten Antikommunisten machen. Dass es ihm dennoch gelang, trotz der Traumatisierung eine sachliche Haltung zum Land einer Herkunft und zu seinen Einwohnern zu finden, führt Klitzing darauf zurück, dass ihm durch die rechtzeitige Auswanderung die Erfahrung der ab der „Reichskristallnacht“ eskalierenden Brutalität, die innerhalb von nur drei Jahren zum Holocaust führte, erspart blieb, eine Beobachtung, die der Rez. aus dem persönlichen Umgang mit Betroffenen bestätigen kann.

Nachdem er 1943 in die U.S. Army eingezogen und kurz darauf in seiner neuen Heimat naturalisiert worden war, betrat nun Henry Kissinger im November 1944 als Amerikaner in Aachen wieder deutschen Boden. Es folgten ab März 1945 weitere Stationen in Krefeld, im April in Hannover - während dieser Zeit besuchte er auch kurz Fürth - und vom Juni / Juli 1945 bis April / Mai 1946 die Tätigkeit als Mitglied eines CIC-Teams im südhessischen Bensheim, wo er u.a. für die Entnazifizierung zuständig war und sowohl praktische Erfahrungen in der Verwaltungsarbeit der Militärregierung wie auch mit dem Verhalten der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des „Tausendjährigen Reiches“ sammeln konnte. Schon hier zeigte der CIC-Offizier Kissinger eine unemotionale und pragmatische Herangehensweise, bei der er zwar seine sprachlichen Kenntnisse und die der deutschen Mentalität zu nutzen verstand, sich jedoch weder als Racheengel seiner Leidensgenossen gerierte noch mit den Besiegten gemein machte, die nichts mehr von der Zeit zwischen 1933 und 1945 wissen wollten. Den Abschluss seiner temporären Rückkehr bildete ein bis Juli 1947 dauerndes Engagement an der „European Theater Intelligence School“ der US-Armee in Oberammergau, während dem er vom Militär entlassen wurde und zuletzt als Dozent auf eigene Rechnung tätig war.

Ausgestattet mit der Staatsangehörigkeit, seinen Eindrücken, den Erleichterungen, die ehemaligen GIs zustanden, und seinen unzweifelhaften Begabungen - der Fähigkeit zu systematischem Denken in größeren Zusammenhängen, gepaart mit Organisationstalent und geschickter Selbstdarstellung, schlug Kissinger die akademische Laufbahn als Historiker und Politikwissenschaftler ein. In seinen universitären Schriften „The Meaning of History“ (unveröffentlichte „Honors’ Thesis“ 1950) und der Dissertation „Peace, Legitimacy, and the Equilibrium. A Study of statesmanship of Castlereagh and Metternich“ (1954) legte er das theoretische Fundament für sein politisches Handeln in den sechziger und siebziger Jahren. Ersterer Text setzt sich mit der Geschichtsphilosophie Spenglers, Toynbees und Kants auseinander, seine Doktorarbeit widmete Kissinger bezeichnenderweise der Entstehung des fast ein ganzes Jahrhundert hindurch funktionierenden europäischen Systems eines Mächtegleichgewichts, das ihm beispielhaft erscheinen musste. Dieser Ansatz widerspricht der von seinen Kritikern oft behaupteten Charakterisierung, Kissinger sei ein skrupelloser Machtpolitiker gewesen, dem es nur um den Erhalt der amerikanischen Hegemonie über die westliche Hemisphäre ging. Schon in seinen frühen Arbeiten zog er vielmehr den Schluss, dass die Erfahrungen aus der Geschichte die Staaten zur Selbstbeschränkung führen müssen, um nicht destabilisierend zu wirken und damit die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Bezeichnenderweise warf ihm die andere Seite des politischen Spektrums zeitgenössisch auch das genaue Gegenteil vor, nämlich eine unverantwortliche „Appeasement“-Politik gegenüber der Sowjetunion, beides Zeichnen für das völlige Unverständnis von Kissingers auf ein Gleichgewicht der Kräfte ausgerichtetes Denken.

Ebenso konsequent wie die Themenwahl seiner Graduierungsschriften mutet den Leser die von Klitzing nachgezeichnete Umsetzung seiner Einsichten im Rahmen von Kissingers „Career Building“ an: Für die Herstellung eines Equilibriums zwischen den Machtblöcken der Nachkriegszeit war Europa von zentraler Bedeutung und darin wiederum das geteilte Deutschland - und Kissinger war der geborene Experte, um das amerikanisch-deutsche Verhältnis entscheidend zu beeinflussen. Schon in Harvard baute er umsichtig ein persönliches transatlantisches Netzwerk auf, aus dem langfristig Beziehungen erwuchsen, die er bei seiner diplomatischen Tätigkeit nutzen konnte. Dabei vermied er es trotz der weltanschaulichen Nähe zur CDU/CSU tunlich, sich für innenpolitische Zwecke in Deutschland instrumentalisieren zu lassen. Kissinger ließ nie einen Zweifel daran aufkommen, dass er die Interessen der Vereinigten Staaten vertrat, ein für ihn beruflich wie wohl auch persönlich wichtiger Loyalitätsbeweis gegenüber seinen Landsleuten und den jeweils in Washington Verantwortlichen, die sich deshalb vorbehaltlos auf seinen Rat verlassen konnten, wenn sie grundsätzlich seine Weltsicht teilten.

Kissingers Durchbruch zu internationalem Ansehen brachte sein 1957 veröffentlichtes Buch „Nuclear Weapons and Foreign Policy“, das ihn als führenden Theoretiker des Außenpolitik im Atomzeitalter auswies und beiderseits des Atlantiks intensiv rezipiert und diskutiert wurde. Es dauerte freilich noch mehr als zehn Jahre, bis er als „National Security Adviser“ des republikanischen Präsidenten Nixon aktiv ins Geschehen eingreifen konnte (entsprechende Versuche unter Kennedy und Johnson musste er wegen Widerständen in deren Administrationen frustriert aufgeben). Endlich bot sich dem ehrgeizigen Universitätsprofessor und Publizisten die Möglichkeit, seine Theoreme in die Wirklichkeit umzusetzen. Zugleich stellte die aktive Ostpolitik des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt und seines kongenialen außenpolitischen Unterhändlers Egon Bahr eine neue Herausforderung für ihn dar. Diesem Kapitel des widerwilligen, aber letztlich effektiven Zusammenwirkens deutscher und amerikanischer Außenpolitik bis zum Abschluss der Ostverträge 1972 widmet Klitzing den Hauptteil seiner Arbeit (S. 221 - 371). Die handelnden Personen bewiesen damals ein Höchstmaß an Professionalität, indem sie ideologische und menschliche Gegensätze - Kissinger bezeichnete Bahr gesprächsweise als „Lizard“ und schätzte Brandt intern als charakterschwach ein; in der SPD fanden außenpolitisch nur Fritz Erler und Helmut Schmidt bei ihm ein gnädiges Urteil - hinter die gemeinsamen Interessen ihrer Länder zurückstellten. Zunächst aber ließen die deutschen Aktivitäten bei Kissinger alle Alarmglocken läuten, da sie aus seiner Sicht die Gefahr eines erneuten Sonderwegs (Stichwörter: Rapallo bzw. Finnlandisierung) zur Erlangung der staatlichen Einheit in sich bargen, der unweigerlich zu einer fundamentalen Schwächung der westlichen Gemeinschaft in NATO und EG und schließlich dem Verlust des amerikanischen Einflusses in Europa führen würde. Schon der Slogan „Wandel durch Annäherung“ musste ihm suspekt sein, war doch seine Entspannungspolitik zwischen den Weltmächten auf die Stabilisierung der Verhältnisse durch die Beilegung von Konflikten wie Vietnam und die Begrenzung des Wettrüstens ausgerichtet. Zwar gehörte die Unterstützung des deutschen Wunsches nach Wiedervereinigung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu Kissingers Credo, um ein Abwenden Deutschlands von einem unsolidarischen westlichen Bündnis zu verhindern, doch sollten alle Schritte in diese Richtung in sein „Grand Design“ eines weltweiten Ausgleichs zwischen den USA und der UdSSR eingebettet sein. Erst der konkrete Verlauf der deutsch-sowjetischen Verhandlungen und die aus ihnen resultierende Erkenntnis der Grenzen eigenständiger bundesrepublikanischer Außenpolitik (auch mit Rücksicht auf die heftige innenpolitische Auseinandersetzung und die zu keinem Zeitpunkt vorhandene Bereitschaft, zugunsten der nationalen Einheit auf die materiellen und sicherheitspolitischen Annehmlichkeiten der Westintegration zu verzichten), beruhigten die Skeptiker in den USA. Als ihm klar wurde, dass Brandts aktive Ostpolitik sogar die parallel laufenden US-Bestrebungen nach einer Entspannung des Verhältnisses zur Sowjetunion förderten und die Ostverträge faktisch die Anerkennung des Status Quo durch Deutschland bedeuteten und damit stabilisierend wirkten, war Kissinger versöhnt.

In das Jahr der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler fiel auch eine charakteristische Episode, die das in Deutschland von interessierten Kreisen gerne erzeugte Bild vom „verlorenen Sohn“ Henry Kissinger konterkariert und zugleich die Grenzen seiner Toleranz gegenüber historisch ignorantem Verhalten aufzeigt: Als Kissinger im Frühling 1969 zusammen mit Präsident Nixon Deutschland besuchte, lud ihn seine Geburtsstadt zu einem Besuch ein. Als er das Angebot wegen Terminschwierigkeiten ablehnen musste, versuchten die Verantwortlichen ihn doch noch durch den - wirklichkeitsfremden - Hinweis umzustimmen, er könne bei dieser Gelegenheit seine in Fürth lebende Verwandtschaft besuchen. Da verlor selbst der nach außen immer stoisch ruhig und beherrscht wirkende Kissinger kurzzeitig die Fassung und brachte diesen Vorschlag zornig auf den Punkt: „What the hell are they putting out? My relatives are soap.” Kein Wunder, dass er vier Jahre später im Gespräch mit einem US-Gewerkschaftsfunktionär seine Einschätzung der Deutschen salopp so zusammenfasste: „The Germans are not vicious, they are stupid.“

In seiner Analyse von Kissingers politischem Denken und Handeln geht Klitzing auch auf deren Schwachpunkte ein, die sich aus den gleichen Quellen speisten wie sein Expertentum für die Probleme Deutschlands und damit die Ambivalenz seines Verhältnisses zum Land seiner Geburt bestätigen. Seine Deutschlanderfahrung aus persönlicher Anschauung und dem Studium der Geschichte führten zu einer Überschätzung des Nationalismus als Triebfeder der Außenpolitik nach 1945. Kissinger verkannte die tiefgreifenden Auswirkungen der Westintegration der Bundesrepublik und den damit verbundenen Wertewandel, etwa den kategorischen Antikommunismus quer durch alle Parteien und sozialen Schichten, der keine Kompromisse mit der DDR oder UdSSR zuließ, die eine Neutralisierung bedeutet hätten. Diese Verankerung der Politik in der Meinung der Bevölkerungsmehrheit wäre für ihn als Anhänger der traditionellen Schule von Historikern, nach der Staatsmänner und nicht gesellschaftliche Bewegungen letztlich den Gang der Geschichte bestimmen, auch von untergeordneter Bedeutung gewesen; als Politiker - mit einem entsprechenden Bild seiner eigenen Rolle - verstellte ihm dies jedoch die klare Sicht auf die Tatsachen. Zurück blieb eine angesichts seines Erlebens der fanatisierten Deutschen in den dreißiger Jahren verständliche Skepsis gegenüber der modernen Massengesellschaft, die er für gefährlich manipulierbar hielt. Ebenso blieb er als Konservativer dem Denkmuster des Volkscharakters verhaftet, im konkreten Fall der Deutschen einem unterstellten Hang zur Romantik, die unter dafür günstigen Verhältnissen in Extremismus umschlagen kann. Dieser Ansatz, den er lange nach seiner aktiven Zeit in Bezug auf Russland in der Feststellung zusammenfasste, „ein Nationalcharakter triumphiert über alle politischen Systeme“, mag nicht völlig falsch sein, wie gerade das von ihm gewählte Beispiel zeigt. Dient er aber zu häufig zur Erklärung irrationaler Vorgänge in der Geschichte, droht er zum verunklarenden Stereotyp zu werden.

Die Ergebnisse von Kissingers Auftritt auf der internationalen, insbesondere amerikanisch-deutschen Bühne als Wissenschaftler, Politiker und Publizist resümiert der Autor in Übereinstimmung mit den von ihm konsultierten Quellen:

“[Kissinger] was neither apologetic nor keen on writing a Persilschein, yet he pleaded for perspective, put personal anguish aside, and focused on the requirements of the day as he saw them. His contribution to raising the level of acceptance and trust the Federal Republic enjoyed abroad should not be underestimated.”

Anders ausgedrückt: Ohne die „deutsche Frage“ und seinen ganz persönlichen Bezug zu ihr wäre Kissinger nicht zu einer der wichtigsten außenpolitischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts aufgestiegen. Inwieweit er dazu bewusst auch die Tatsache für sich wirken ließ, dass sein Händedruck als vertriebener Jude in Deutschland so etwas wie eine Absolution für sein Gegenüber war, weiß nur er selbst, da er auf die Bitte des Autors um Mitwirkung an seinem Buch wie meist auf solche Ansinnen nicht reagierte.

Klitzings profunde Arbeit, die auch noch sorgfältig redigiert ist - heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit -, zeichnet jedenfalls durch die Darstellung der Ergebnisse das Bild eines ebenso komplexen wie faszinierenden Charakters und ist auch unter dem Gesichtspunkt lesenswert, wie Außenpolitik vor 40 Jahren funktioniert hat - mit professionell agierenden und theoretisch unterfütterten Persönlichkeiten, die auch von der moralischen Richtigkeit ihrer Zielsetzungen überzeugt waren. Was den ehemaligen US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger angeht, so widerlegt seine objektive Wiedergabe der Sachverhalte das dämonisierende Zerrbild des eiskalten Machiavellisten, der um der Macht willen kleine Kinder in Vietnam und Kambodscha bombardieren ließ. Der Leser gewinnt von ihm eher den Eindruck eines zum Pessimismus neigenden Melancholikers, ein Charakterzug, den man gemeinhin gerne der deutschen Mentalität zuschreibt - sollte es sie je gegeben haben oder noch geben.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 27.08.2008

Titel: Bund jüdischer Soldaten (RjF) e.V. (Hg.): Der Schild. 2. Jg., Nr. 2, Berlin, 1. Juni 2008, 35 S., ISSN 1865-6595.

 

 

Sowohl mit seinem Namen wie auch dem Titel seines Magazins stellt sich der „Bund jüdischer Soldaten“ in die ebenso große wie tragische Tradition des 1919 gegründeten „Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten“ (RjF), der in der Weimarer Zeit neben dem „Centralverein der Juden in Deutschland“ (C.V.) der Hauptträger des Abwehrkampfes gegen die Pest des Antisemitismus war.

Nach der Schoa, dem fundamentalen und anhaltenden Wandel der gesellschaftlichen Rolle der Bundeswehr als deutscher Armee und angesichts der Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland (Stichwort „Kontingentflüchtlinge“) muss eine solche Vereinigung heute primär andere Ziele verfolgen, die sich entsprechend auch in ihrem Periodikum niederschlagen. Nicht dass das antisemitische Zerrbild jüdischer Feigheit und Vaterlandslosigkeit ausgestorben und deshalb nicht mehr mit Fakten widerlegt zu werden bräuchte. Wichtiger aber ist die sachliche Darstellung der Kontinuität jüdischer Soldaten im deutschen Militär seit der Emanzipation als positive Identifikationsmöglichkeit für die Betroffenen und Erinnerungsposten für die nichtjüdische Öffentlichkeit. Die Wahrnehmung des Sachverhalts in einem historischen Zusammenhang, der eine Brücke über den bodenlosen Abgrund des NS-Massenmords schlägt und dem eigenen Handeln eine besondere Bedeutung zukommen lässt, kann bei diesem Thema auf beiden Seiten nur integrativ wirken, da deutsch-jüdische Soldaten Teil der gemeinsamen Geschichte - und eben auch wieder Gegenwart - sind.

Die bei der Beschäftigung mit diesem Gegenstand zwingende Janusköpfigkeit findet sich erwartungsgemäß in den Hauptrubriken „Aktuell“ und „Der Blick zurück“ von „Der Schild“ bzw. den sie füllenden Beiträgen wieder, zumal die zu besprechende Ausgabe schwerpunktmäßig von der ersten Tagung des Bundes jüdischer Soldaten unter dem übergreifenden Titel „Jüdische Soldaten in Deutschen Armeen“ im November 2007 berichtet (S. 20 - 22). Besonders plastisch ist hierbei der abgedruckte Vortragstext von Michael Fürst „Juden in deutschen Armeen - Teil meiner Familiengeschichte“ (S. 4 - 11), da der Autor dabei als erster jüdischer Bundeswehrsoldat (seit 1966) aus eigener Erfahrung und Sohn einer der wenigen deutsch-jüdischen Familien, die nach der Schoa hier blieben, aus der Tradition seiner Vorfahren im Heer der Kaiserzeit und Teilnehmer am I. Weltkrieg schöpfen kann, wobei er historische und selbst erlebte Begegnungen mit Antisemiten und ihrer Ideologie nicht unerwähnt lässt. Entsprechend seiner Vorreiterrolle ist Fürst Ehrenvorsitzender des Bundes jüdischer Soldaten.

Einen für gläubige Juden zentralen Aspekt diskutiert Gideon Römer-Hillebrecht in seinem Beitrag „Sind jüdisch-religiöser Lebensweg und Militärdienst vereinbar? Gebote der Kriegsführung und des Lebenswandels bei Juden in modernen nicht-jüdischen Armeen“ (S. 12 - 16), der dem Außenstehenden aufschlussreiche Einblicke in die theologischen und ethischen Grundlagen jüdischen Soldatentums gewährt.

Allein die beiden aus dem Inhalt herausgegriffenen Texte zeigen die Spannbreite des Themas deutsch-jüdische Soldaten in Vergangenheit und Gegenwart. Deshalb ist abzusehen, dass sich „Der Schild“, der zusätzlich einschlägige Literaturhinweise und Buchbesprechungen bietet und über ein ansprechendes Layout verfügt, als eine Informationsquelle für alle Interessierten auf hohem Qualitätsniveau etablieren wird, deren Bedeutung weit über die einer reinen Mitgliederzeitschrift hinausgeht. Hierfür bürgt die Kompetenz der Verantwortlichen als aktive Offiziere und Militärhistoriker, allen voran des Vereinsvorsitzenden und Chefredakteurs von „Der Schild“, Hauptmann Michael Berger.

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Rezension Jacob Rosenthal: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 20.08.2008

Titel: Christoph Friedrich (Hg.): Zwangsarbeit in Erlangen während des Zweiten Weltkriegs. Erlangen 2007, 232 S., 1 Karte, zahlr. Abb., ISBN 978-3-930035-10-6 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Erlangen, Nr. 6).

 

 

Vorläufer und Grundlage dieses Buches ist Christoph Uebeleins Magisterarbeit „’Fremdvölkische Arbeitskräfte’. Displaced Persons in Erlangen“ von 1990, die bereits 1991 vom Stadtarchiv veröffentlicht wurde, jedoch im Jahre 2000, als auch in der Siemensstadt die Entschädigung der ehemaligen, lokal eingesetzten Zwangsarbeiter diskutiert wurde, vergriffen war, weshalb man sich an eine Publikation machte, die das Thema breiter behandeln sollte.

Das Ergebnis gliedert sich in einen Quellenteil mit den Berichten zweier ukrainisch-russischer und eines niederländischen Zwangsarbeiters sowie zwei Forschungsarbeiten, einen knapp neunzigseitigen, erweiterten Neuabdruck des Textes von Uebelein mit einem kurzem Exkurs über Zwangsarbeiterbeschäftigung bei der Stadt Erlangen und einen Beitrag von Wolfgang Frobenius über „Abtreibungen an Ostarbeiterinnen 1943-1945 in Erlangen“, einen besonders infamen Aspekt der Behandlung dieser Menschen durch das NS-Regime und seine ärztlichen Helfershelfer. Abgeschlossen wird der Band durch einen Abriss von Andreas Jakob über den Umgang mit der Zwangsarbeit und ihren Opfern nach 1945, der Entschädigungsproblematik und die praktische Rolle des Stadtarchivs bei der Nachweiserbringung und Forschung auf kommunaler Ebene.

Neben der quellengestützten, detaillierten Faktendarstellung bezieht „Zwangsarbeit in Erlangen“ auch moralisch eindeutig Stellung: Die Verantwortlichen scheuen sich weder im Geleitwort des Oberbürgermeisters noch in der Einführung des Herausgebers die um Jahrzehnte verspätete Verurteilung dieser Form des NS-Unrechts als beschämendes Versäumnis der nachkriegsdeutschen Politik, Wirtschaft und Bevölkerung beim Namen zu nennen.

Mit seinen lebendigen Zeitzeugenberichten und solide in den freilich wie so oft lückenhaften archivischen Quellen recherchierten Informationen, die sowohl die einzelnen Beschäftigungsbetriebe aufführen - die Siemens-Reiniger-Werke waren der mit Abstand größte Beschäftigungsbetrieb von „Fremdarbeitern“ (Feb. 1944: 854) - wie auch Überblicks- und Einzelstatistiken bieten - der Höchststand an Zivilausländern und im Arbeitseinsatz befindlichen Kriegsgefangenen wurde in Stadt- und Landkreis im Sept. 1944 mit ca. 4300 erreicht - fasst das Buch den aktuellen Kenntnisstand erschöpfend zusammen. Die Stadt Erlangen hat damit beispielhaft für eine Kommune ihrer Größe ‚ihre Hausaufgaben gemacht’ und gibt dem lokalhistorisch Interessierten ein Werk an die Hand, das seinem im Titel erhobenen, umfassenden Anspruch durchaus gerecht wird. Ebenso ermöglicht es regionale und überregionale Vergleiche mit den Verhältnissen an anderen Orten.

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Zwangsarbeit in Nürnberg - Fakten statt Verdrängung

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 29.12.2008

Titel: Robert Schlickewitz: Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“. Sinti und Roma in der bayerischen Geschichte. 214 S. Deggendorf, 2. Aufl. 2007. Zu beziehen über den Autor unter robert_schlickewitz[at]yahoo.de

 

 

 

 

 

Fotos von Zigeunern aus Alfred Dillmanns "Zigeuner-Buch" (München 1905), einem diskriminierenden amtlichen Personenverzeichnis der bayerischen Polizei aus der gar nicht "guten alten Zeit"

 

Mahnmal für die NS-Opfer unter den Nürnberger Sinti und Roma
(Foto: Susanne Rieger)

Nach den Worten des Autors ist diese bisher nur als spiralisierte Ausarbeitung vorliegende Publikation ein Auszug aus der Materialsammlung für eine von ihm geplante umfassende „Ehrliche weißblaue Chronik“ (S. 4) . Dies erklärt, weshalb die Einträge zwischen dem 4. Jahrhundert und 2007 sachlich und räumlich weit über das in Titel und Untertitel formulierte Thema hinausgehen. Zahlreiche Hinweise auf die jüdische Geschichte in Bayern bzw. den sie begleitenden Antisemitismus, aber auch Informationen über das Bild der Zigeuner in der internationalen Literatur, Musik oder im Film zeigen, dass sich Autor intensiv mit der Geschichte dieser Minderheiten beschäftigt hat. Auch ist er bemüht, durch das Aufführen allgemeiner Daten der deutschen und bayerischen Geschichte größere Zusammenhänge herzustellen. Beispielhaft dafür kann folgender Eintrag zum Jahr 1812 stehen, als der Russlandfeldzug Napoleons 30.000 tote bayerische Soldaten forderte:

„[...] aber das Volk der Bajuwaren ist nicht in der Lage oder willens aus dieser Tragödie die nötige Lehre zu ziehen: nur vier Generationen später verbluten seine Söhne erneut im Kampf mit den Truppen des Zaren, und wieder vollkommen umsonst; noch ein drittes Mal, wieder eine Generation später, ziehen Bayern und Deutsche gegen Osten, um diesmal ihre verlustreichste und schmählichste Niederlage zu erleiden[.]“

Wegen ihres engagierten Tones, der Entscheidung des Autors, seine Chronik bis in die Gegenwart laufen zu lassen, auch wenn dadurch die Versuchung zur Polemik wächst, und die Wahl der Gattung, die dem Chronisten freistellt, was für ihn ein schildernswertes Ereignis ist und wie er dieses kommentiert, tritt man Schlickewitz’ Zusammenstellung sicher nicht zu nahe, wenn man sie nicht als geschichtswissenschaftliches Werk, sondern kenntnisreiche, verlässliche und zu eigenem Nachdenken anregende politisch-historische Informationsquelle bezeichnet, komponiert in einer bewusst aufklärerisch-didaktischen Absicht.

Die Schwerpunkte der „Kleinen Chronik“ bilden die NS- (39 S.) und Nachkriegszeit (70 S.), wobei positiv auffällt, dass sie im Gegensatz zu vielen Werken der offiziellen, auf Altbayern bzw. München zentrierten Geschichtsschreibung durchgehend alle aktuellen Landesteile und die Pfalz berücksichtigt, solange letztere zu Bayern gehörte.

Schon in früheren Epochen fallen die Parallelen zwischen der Behandlung der jüdischen und der ziganischen Minderheit auf, deren Andersartigkeit, im Falle der Sinti, Roma und Jenischen besonders ihre Nichtsesshaftigkeit als Gegenentwurf zum sowohl geographisch wie sozial statischen Ständestaat, die Betroffenen immer wieder zur Zielscheibe von bösartigen Vorurteilen und von der Obrigkeit sanktionierter Gewalt werden ließ: Waren die Juden „Christusmörder“ und „Brunnenvergifter“, so warf man den Zigeunern traditionell Hexerei und seit dem Fall Konstantinopels 1453 Spionage für das Osmanische Reich vor, um Abwehr- und Verfolgungsmaßnahmen gegen sie zu rechtfertigen.

Im Unterschied zu den Juden brachte der Modernisierungsschub des 19. Jahrhunderts bei ihnen keine emanzipatorische Bewegung mit dem Ziel einer Integration in die Mehrheitsgesellschaft. Hier gab es weder einflussreiche Befürworter einer solchen Entwicklung außerhalb der Gruppe noch interne Vordenker und Bestrebungen, was aus ihrer spezifischen Lebensform und sozialen Struktur zu erklären sein dürfte. Vielmehr gerieten die sich bürgerlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen widersetzenden Menschen in einen immer schärferen Gegensatz zur Verwaltungs- und Kontrollmaschinerie der Nationalstaaten, denen sie schon wegen ihrer oft ungeklärten Staatsangehörigkeit suspekt sein mussten und die sie regional häufig zum Spielball zwischen Bayern und Österreich-Ungarn werden ließ. Hinzu trat ein dem modernen Antisemitismus vergleichbarer, pseudowissenschaftlicher Antiziganismus, der ihre rassisch bedingte Minderwertigkeit konstatierte und ab 1933 den Weg zur Zwangssterilisation oder ins Konzentrationslager ebnete. Schlickewitz gibt als Ergebnis die Zahl von 25.000 ermordeten deutschen und österreichischen Sinti und Roma an (S. 113, Eintrag 1945/2).

Skandalös ist der eindeutig zu führende Nachweis personeller und organisatorischer Kontinuitäten bei den mit Fragen der „Landfahrer“ befassten bayerischen Behörden vor und nach 1945, die in ihrer Unfähigkeit im Umgang mit dieser Minderheit, aber auch weil sie in antiziganistischen Denkmustern verhaftet blieben, bedenkenlos auf NS-Unterlagen zurückgriffen, um damit z.B. Wiedergutmachungsansprüche abzuwehren. Eine ausgesprochen diskriminierende „Landfahrerordnung“ war in Bayern als einzigem Bundesland noch von 1953 bis 1970 in Kraft. Und auch hier zeigt die jüngste Kontroverse um die Äußerungen eines Funktionärs der Polizeigewerkschaft aus Bayern wieder Parallelen zum Antisemitismus nach dem Holocaust: Sein pauschaler Vorwurf, Sinti und Roma seien die „Maden im Speck“ unseres Staates, die sich diesen Sonderstatus nur wegen ihrer ständig reklamierten Opferrolle unter den Nazis erlauben dürften, deckt sich mit der Meinung vieler Judenhasser - und findet wohl auch außerhalb fanatisierter Kreise mehr oder weniger offen artikulierte Zustimmung.

Schlickewitz beweist gerade in diesem Teil seiner „Kleinen Chronik“, dass die sprichwörtliche „Liberalitas Bavariae“ immer eher eine propagandistische Erfindung der Herrschenden denn eine Realität für diejenigen war, die Toleranz wirklich brauchen. Die derzeit ca. 70.000 Sinti und Roma, von denen etwa 12.000 in Bayern leben, werden auf absehbare Zeit weiterhin Gefahr laufen, Opfer rassistischer Vorurteile zu werden, zumal wenn die verstärkte Zuwanderung verwandter Gruppen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien nach Westeuropa anhält.

Wer sich mit den historischen Wurzeln dieser Situation und an diesem konkreten Beispiel mit bayerisches Landesgeschichte „von unten“ beschäftigen will, sollte als Einstieg die „Kleine Chronik Bayerns und seiner 'Zigeuner'“ wählen, die dem Leser zusätzlich einen Anhang mit Quellentexten, ein Literaturverzeichnis inklusive Internetquellen und ein Personen- sowie ein Ortsregister bietet.

Dem Autor ist zu wünschen, dass er für sein Projekt einer kritischen chronikalischen Darstellung der bayerischen Geschichte z.B. in der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit einen solventen Förderer findet. Mit der vorliegenden Ausarbeitung hat er seine Kompetenz bewiesen und das Ergebnis würde mehr zum Interesse insbesondere von jungen Menschen an Geschichte, Kultur und Politik in Bayern beitragen als die x-te bunte aber inhaltlich langweilige „Wandzeitung“.

P.S.: Im November 2008 erschien unter dem Titel „Sinti, Roma und Bayern“ die auf 236 Seiten erweiterte und bis in dieses Jahr fortgeschriebene dritte Auflage der Chronik, die über den Autor zu beziehen ist (s.o.).

Links:

Online-Fassung der Chronik "Sinti, Roma und Bayern"

rijo: Chronologie zur Geschichte der Juden in Bayern 906 - 1945

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 05.03.2008

Titel: Jacob Rosenthal: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Campus, Frankfurt / New York 2007, 227 S., 22 Abb., ISBN 978-3-593-38497-9.

 

 

Dieses Buch ist die vom Vf. selbst besorgte deutsche Fassung einer von der Hebrew University in Jerusalem angenommenen Dissertation und in mehrfacher Hinsicht bemerkens- und lesenswert, zunächst wegen seines Urhebers, Jacob Rosenthal, geboren 1922 in Nürnberg. Seine Biographie schafft einen unmittelbaren Zugang zum Thema: Die Beerdigung seines Vaters (vgl. S. 150 f.), der hier 1924 an den Spätfolgen des Krieges starb, führte zu einem Eklat zwischen der jüdischen Gemeinde und den lokalen Veteranenverbänden bzw. ihren jüdischen Mitgliedern. Der Vorgang war charakteristisch für die antisemitischen Tendenz des (ehemaligen) Offizierskorps, die noch während des Krieges im Oktober 1916 in der Zählung der in der deutschen Armee dienenden Juden zum Ausdruck kam. Diesen selbstzerstörerischen ‚Luxus’ der Ausgrenzung einer bedeutenden Bevölkerungsgruppe leiste sich unter den kriegführenden Mächten bezeichnenderweise nur das Deutsche Reich.
Gedanklich klar und methodisch stringent beschreibt Rosenthal Vorgeschichte, Durchführung und Folgen dieses diskriminierenden und von den Betroffenen als tiefe Demütigung empfundenen Aktes und liefert damit die erste monographische wissenschaftliche Darstellung des Vorgangs in deutscher Sprache, 91 Jahre nach dem historischen Ereignis! An der mangelnden Relevanz des Themas kann es nicht gelegen haben, dass sich die deutsche Historiographie damit noch nicht intensiver auseinandergesetzt hat: Die „Judenzählung“ beendete den bei Kriegsbeginn von Kaiser Wilhelm II. ausgerufenen „Burgfrieden“ zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen und lieferte seitdem den Antisemiten im „Alldeutschen Verband“ und später den Nationalsozialisten die propagandistische Munition über „jüdische Drückebergerei“ und „Dolchstoß“, die sie für ihre Hetzkampagnen benötigten. Auf der anderen Seite prägte das Erlebnis, wegen der Religion aus der Schicksalsgemeinschaft der für das Vaterland kämpfenden und sterbenden Soldaten aussortiert zu werden, die Selbstwahrnehmung vieler Juden. Als Beleg zitiert der Vf. zahlreiche Stimmen prominenter und weniger prominenter jüdischer Deutscher, denen so die Aussichtslosigkeit ihres Wunsches nach völliger Assimilation schmerzhaft vor Augen geführt wurde und die sich deshalb nach 1918 desillusioniert neue Ziele steckten, indem sie sich etwa der zionistischen Bewegung anschlossen.
Selbst unter den Bedingungen der Weimarer Demokratie war der vom „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und dem „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ getragene Abwehrkampf gegen das Klischee vom Juden, der sich 1914/18 in den Schreibstuben des Militärs oder den Kriegswirtschaftsämtern vor dem Frontdienst gedrückt hatte, zum Scheitern verurteilt: Der bereits während des I. Weltkriegs begonnenen, akribischen Datensammlung durch jüdische Organisationen, deren Ergebnisse umfassend 1932 im Gedenkbuch „Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914 - 1918“ veröffentlicht wurden, standen die angeblich nur für interne Zwecke des Kriegsministeriums erhobenen Zahlen gegenüber, die auch nach Kriegsende nie offengelegt wurden und so seitens der Antisemiten den willkommenen Stoff für haltlose Diffamierungen boten. Eine offizielle Ehrenerklärung für die Pflichterfüllung der jüdischen Soldaten verweigerten militärische Führung und Politik sowohl im Kaiserreich wie auch während der Weimarer Jahre. Stattdessen stellte sich - für den Berufsstand besonders beschämend - das Reichsarchiv unter seinem Präsidenten von Haeften - einem ehemaligen Offizier der Obersten Heeresleitung - 1933 sofort in den Dienst der neuen Herren und versuchte die Zahl der 12.000 jüdischen Gefallenen des Gedenkbuchs herunterzurechnen, ohne seine Quellen für eine Prüfung von neutraler Seite zugänglich zu machen.
Diese von Rosenthal detailliert dargestellte (S. 171 - 176) Liebedienerei der Archivare zeigt ebenso wie ein weiteres Beispiel, an welch unerwarteten Stellen der Gesellschaft, vor allem im deutschen Militär, der Antisemitismus wie selbstverständlich zu Tage trat: Das Programm der Verschwörer des 20. Juli 1944 sah vor (vgl. S. 142 f.), alle Juden in Deutschland unter Fremdenrecht zu stellen, die nicht selbst Kriegsteilnehmer oder ihre Nachkommen waren oder deren Vorfahren nicht bereits am 01.07.1871 die deutsche Staatsangehörigkeit besessen hatten. Langfristig sollte die „jüdische Frage“ nach Meinung Stauffenbergs & Co. durch die Aussiedlung der Juden in einen eigenen Staat in Nord- oder Südamerika gelöst werden.
Angesichts solch unseliger Traditionen kann die Notwendigkeit des totalen Bruches und der Entwicklung des Leitbildes vom „Staatsbürger in Uniform“ für den Soldaten der Bundeswehr nicht angezweifelt werden. Tatsächlich wurden die Zahlen des Gedenkbuches für die jüdischen Gefallenen erst 1961 bei seiner Neuauflage von offizieller Seite durch den damaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß anerkannt.
Dem Vf. ist dafür zu danken, dass er in seiner Arbeit dieses zentrale Ereignis der deutsch-jüdischen Geschichte erforscht und seine komplexen Folgewirkungen in auch für interessierte Nicht-Fachleute lesbarer Form verständlich beschrieben hat. Niemand wäre dafür wohl geeigneter gewesen als der Sohn des jüdischen Nürnberger Frontoffiziers Dr. Otto Rosenthal.

Link:

Jugenderinnerungen an Nürnberg und das Melanchthon-Gymnasium von Jacob (Heiner) Rosenthal, Jerusalem

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Autor: rijo

Datum: 24.04.2011

Titel (Selbstanzeige): Jerry Nothman: Lucky Me. Vom Nationalsozialismus und Holocaust in Deutschland zu Frieden und Gelassenheit in den USA.

 

 

1930 während der chaotischen Übergangsphase von der Weimarer Republik zum Naziregime in Nürnberg geboren als Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter aus dem Mittelstand, erlebte der Autor die sich zunehmend verschärfende Verfolgung der Juden und der politischen Opposition.

1939 mussten er und sein Bruder die liebevolle Geborgenheit ihrer Familie verlassen und wurden von ihren Eltern in Schweden in relative Sicherheit gebracht, wohin nur einen Tag vor Kriegsausbruch auch ihre Mutter fliehen konnte. Doch erst nach mehreren Jahren, in denen die Jungen bei einem Onkel und verschiedenen Pflegeeltern lebten, gelang es der Mutter, ihre Kinder wieder zu sich zu holen. Trotz verzweifelter Versuche konnte die Mutter nicht die Ausreise des Vaters nach Schweden erwirken. Hilflos musste sie es zulassen, dass er wie Millionen andere in eines der deutschen Vernichtungslager in Polen deportiert wurde.

Mit 15 Jahren ging der Sohn Jerry ohne einen qualifizierten Schulabschluss zur See und versuchte sich anschließend ohne Erfolg auch in anderen Jobs. Im Alter von zwanzig Jahren musste er feststellen, dass er ein emotionales Wrack war und eine ziellose Existenz führte auf der verzweifelten Suche nach sich selbst und seinem Platz in der Gesellschaft.

Jerry erkannte, dass seine Rettung darin lag Europa zu verlassen. Ohne eine Chance seinen großen Traum, nach Amerika zu gehen, zu verwirklichen, entschied er sich für die Auswanderung nach Australien, um dort ein neues Leben zu beginnen.

Nach drei Jahren erhielt er durch eine wohlhabende amerikanische Familie, die er bereits in Schweden kennengelernt hatte, die Möglichkeit zur Erfüllung seines Herzenswunsches und konnte in die USA immigrieren.

In den Vereinigten Staaten fand er die Gelegenheit zu einer Karriere als Firmenrepräsentant und - nach einer gescheiterten Ehe - Corrine, die Frau, die ihm nicht nur dabei half zu sich selbst zu finden, sondern auch mit ihm mehrere erfolgreiche Unternehmen gründete.

Jetzt, in seinen späten siebziger Jahren, hat sich für Jerry der Kreis geschlossen: Nach einer glücklichen frühen Kindheit, Not und Leid, kann er als Pensionär mit Wohnsitzen in Oregon und Arizona die Liebe von vier Kindern und fünf Enkelkindern genießen und fühlt sich selbst tatsächlich als Lucky Me: jemand, der trotz allem viel Glück hatte.

Dies ist seine Geschichte und die der vielen Menschen, die ihm auf seinem Weg geholfen haben.

Das Buch
Jerry Nothman: Lucky Me. Hardcover, 433 Seiten, englisch, 24,15 EUR. © 2007 by Jerry Nothman.

Auf Deutsch
2008 erschien in der zweiten Ausgabe von transit nürnberg. Zeitschrift für Politik und Zeitgeschichte unter dem Titel Wie ich in Schweden zum Amerikaner wurde ein deutscher Auszug aus Lucky Me.

Links:

Zur Bestellung von Lucky Me

Die Lesung von Jerry Nothman aus Lucky Me am 20.03.2008 in Nürnberg

Jerry Nothman 2011 in den Nürnberger Nachrichten

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Autor: rijo

Datum: 24.11.2007

Titel (Selbstanzeige): Falk Wiesemann: Judaica bavarica. Neue Bibliographie zur Geschichte der Juden in Bayern. Essen 2007, 1022 S., 129 EUR. ISBN 978-3-89861-654-6.

Die erste Ausgabe dieser Bibliographie erschien 1989 und verzeichnete rund 3000 Titel. Die neue Bibliographie umfasst mehr als 12.500, zusätzlich zu den alten Titeln etwa ebenso viele Neuerscheinungen seit 1988 und eine Reihe von neurecherchierten älteren Einträgen, insbesondere einschlägige Artikel der deutsch-jüdischen Presse vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1938. Außerdem enthält das Verzeichnis in Annotationen erweiterte Hinweise auf die konkreten Inhalte.

Links:

Beschreibung auf der Website des Klartext-Verlages

Chronologie zur Geschichte der Juden in Bayern 906 - 1945

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 24.11.2007

Titel: Bezirk Mittelfranken (Hg.): Juden in Franken 1806 bis heute. Ansbach, 2. Aufl. 2007. 192 S. ISSN 1864-6484.

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Der von der Bezirksheimatpflegerin Andrea Kluxen und Julia Hecht redigierte Band enthält die Referate einer Tagung der Reihe „Franconia Judaica“ am 03.11.2006 in Nürnberg, die der Bezirk, der Historische Verein für Mittelfranken und das Jüdische Museum Franken veranstalteten. Als ihre erste Nummer soll er eine gleichnamige Veröffentlichungsreihe begründen.
Eröffnet wird der Reigen mit einem flotten Durchzieher des oberfränkischen Bezirksheimatpflegers Günter Dippold über „Jüdisches Leben im Franken des Alten Reichs“. Wegen seiner Zuständigkeit bedient sich der Vf. dabei überwiegend Fallbeispielen aus dem Landjudentum Oberfrankens, ist aber um einen Blick über die engeren Grenzen bemüht und somit in seinen Kernaussagen für den gesamtfränkischen Raum treffend.
Nach Dippolds Beitrag verlässt das Sammelwerk bereits die Zeit vor 1806, als weite Teile Frankens zum jungen Königreich Bayern kamen. Dies ist trotz der Vorgabe des Titels von Veranstaltung und Band bedauerlich, da die im weiteren Verlauf immer wieder beschworene Tradition der „Franconia Judaica“ eben in den Jahrhunderten der vom Vf. so bezeichneten „Atomisierung“ des jüdischen Lebens wuchs.
Den „Juden in Franken im 19. Jahrhundert“ versucht sich Hartmut Heller anzunähern, indem er kursorisch prägende Faktoren und Entwicklungslinien wie den Matrikelparagraphen des „Judenedikts“ von 1813, das Gewerbeleben, Auswanderung und Landflucht beschreibt. Der einschränkende Rahmen eines Referats verhindert freilich die Erfüllung des selbst gesteckten Ziels der Repräsentativität und führt passagenweise zu recht beliebigem Namedropping mehr oder weniger bekannter jüdischer Lokalgrößen, dessen Erkenntniswert noch am ehesten in den Quellen- und Literaturangaben zu suchen ist. Nur halboffene Türen rennt der Vf. mit seiner Klage ein (S. 52): „Wenigstens eine wirklich umfassende Bibliographie wäre ein Desiderat.“ Offenbar ist ihm Falk Wiesemanns „Bibliographie zur Geschichte der Juden in Bayern“ (München u.a. 1989) entgangen, da er sie nicht zitiert. Dieses unentbehrliche Werkzeug erfuhr in diesem Jahr eine wesentlich erweiterte Neuauflage, deren Nutzwert für die Praxis erst noch festgestellt werden muss. Freilich könnte jede bibliographische Erschließung immer noch besser sein, gerade bei so heterogenem Schrifttum wie zur regionalen jüdischen Geschichte in Franken.
„Die Judenmatrikel 1813 bis 1861 für Mittelfranken“, eine zentrale Quelle nicht nur für die biografische Forschung, die bereits als digitale Edition vorliegt, und ihren rechtlichen und administrativen Entstehungskontext stellt Gerhard Rechter, der Leiter des Staatsarchivs Nürnberg, in seinem Beitrag vor. Nebenbei bietet der Text einen Grundkurs in bayerischer Verwaltungsgeschichte - ein spröder Stoff, doch zum Verständnis der bis zur gesetzlichen Aufhebung des Matrikelparagraphen per 10.11.1861 geführten Aufzeichnungen unabdingbar.
Ebenfalls grundlegenden Charakter können Richard Mehlers Ausführungen in „Auf dem Weg in die Moderne. Die fränkischen Landjuden vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik“ für sich beanspruchen, da er seine Aussagen überzeugend mit Zahlenangaben aus der Literatur und eigenen Berechnungen belegen kann. An den Arbeiten des Vf. besticht immer wieder die Kenntnis teilweise abgelegener statistischer Quellen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die er unter verschiedensten Aspekten auswertet, im vorliegenden Fall der demographischen Entwicklung der jüdischen Bevölkerung, ihren ökonomischen Verhältnissen, der Entwicklung im religiös-kultureller Bereich und dem (überaus ambivalenten) Verhältnis zwischen Juden und nichtjüdischer Umwelt. Die Beispiele stammen meist aus Unterfranken und zeigen signifikante Unterschiede selbst zwischen den fränkischen Regierungsbezirken: So lebten etwa 1925 in Mittelfranken nur mehr 9 % der Juden auf dem Lande (= in Gemeinden unter 2000 Einwohnern), in Unterfranken aber noch 39 %. Mehlers Text macht Lust, solchen Phänomenen und ihren Auswirkungen vertiefend und vergleichend weiter nachzugehen.
Die folgenden drei im Abschnitt „Fallbeispiele“ zusammengefassten Beiträge zeigen unabhängig von ihrem individuellen Erkenntniswert die klaffenden Lücken in der Erforschung der regionalen jüdischen Geschichte: Die schier unüberschaubare Menge an qualitativ höchst unterschiedlichen Einzeluntersuchungen, meist auf lokaler Ebene, schwebt ohne Quelleninventare und -editionen, differenziert erschließende und bewertende Regionalbibliographien, verlässliche Zahlenwerke, Friedhofsinventare, weitere Matrikeleditionen und solide biographische Nachschlagewerke sozusagen im Nirwana der Beliebigkeit. Ebenso fehlen ganz Bayern oder Franken umfassende quellenorientierte Darstellungen elementarer Themenfelder, vor allem der Wirtschaftsgeschichte - Ausdruck einer allgemeinen Unterbewertung dieser historischen Teildisziplin im Freistaat? Dass noch fast 45 Jahre (!) nach seinem Erscheinen Stefan Schwarz’ „Die Juden in Bayern im Wandel der Zeiten“ - damals ein Erstling und damit verdienstvoll, doch schon deswegen keinesfalls erschöpfend - auch von den meisten Vf. des vorliegenden Bandes als einzige das gesamte Staatsgebiet umfassende Monografie zitiert werden muss, zeigt das ganze Ausmaß dieser wissenschaftlichen Wüstenei. Wie viele „Geschichten Bayerns“ sind seit 1963 erschienen, wie viel wohltönende und teure Forschungsprojekte wurden auf Landesebene gefahren, ohne dass davon die Erforschung der jüdischen Geschichte profitiert hätte? Ein Schelm, der denkt, das Thema würde mehr Aufmerksamkeit erfahren, wenn es vor 1805 eine zahlenmäßig und sozial signifikante jüdische Minderheit im Kurfürstentum Bayern gegeben hätte, in ihrer Bedeutung vergleichbar mit Franken und Schwaben. Fakt ist, dass wirkliche Fortschritte auf diesem Gebiet regelmäßig auf Initiativen Einzelner zurückgehen. Bekannteste gesamtbayerische Beispiele hierfür sind Schwierz’ „Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern“ (1988) und zuletzt Webers „Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933“ (2006). Die im Zusammenhang mit einer Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg 1988/89 entstandenen Bände (Katalog und Aufsätze) über „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern“ stehen als umfassendes Projekt seit bald zwanzig Jahren erratisch für sich.
Dieser Mangel an Grundlagen wirkt sich zwangsläufig negativ aus, wenn es um die Untersuchung von räumlichen oder thematischen Einzelproblemen geht. Anders ist es nicht zu erklären, wie folgender Satz Eingang in Monika Berthold-Hilperts „Zwischen Reform und Orthodoxie. Zur Geschichte der Fürther Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ finden konnte (S. 105): „Für Fürth liegen […] noch keine Zahlen und konkreten Forschungen vor, aber ein Blick in das Repertorium der Auswanderungsakten im Fürther Stadtarchiv zeigt, dass ein Großteil der Auswanderungsgesuche bis in die 1860er Jahre hinein von jüngeren, unverheirateten und berufstätigen Jüdinnen und Juden gestellt wurde.“ Dieser Allgemeinplatz ist mit dem Quellennachweis „Stadtarchiv Fürth, Repertorium Auswanderungsakten“ garniert und der Leser fragt sich, weshalb die Vf., die ja das Findbuch in Händen hatte, ihm nicht wenigstens verrät, wie viele der vorhandenen Akten sich auf die von ihr definierte Gruppe beziehen. Abgesehen davon kann die Charakterisierung „jünger“ (im Vergleich mit wem?), „unverheiratet“ und „berufstätig“ - lies: mit einer Berufsausbildung - bis heute weltweit für die Mehrheit aller Auswanderer gelten und beschreibt deshalb nicht einen spezifischen Befund für die Fürther jüdische Gemeinde.
Bleibt ein solcher Nicht-Befund noch ohne Konsequenzen, besteht bei einer späteren Tatsachenbehauptung die Gefahr, dass sie kritiklos übernommen wird (S. 106): „Mit dieser Bestimmung [Aufhebung der rabbinischen Gerichtsbarkeit durch das „Judenedikt“ von 1813] versuchte die Regierung, den Einfluss der Orthodoxie innerhalb der jüdischen Gemeinden zurückzudrängen und die Anhänger einer Reform des Judentums zu begünstigen.“ Ohne Angabe einer zeitgenössischen Quelle, in der die Intentionen der Obrigkeit explizit formuliert werden, ist diese Aussage haltlos. Angesichts der historischen Entwicklung des bayerischen Gerichtswesens liegt es näher, diese Maßnahme des „Judenedikts“ im Zusammenhang mit seiner Vereinheitlichung und Verstaatlichung zu sehen. Konsequenterweise widerlegt die Vf. sich bald selbst, indem sie zeigt, wie seit 1831 der - angeblich entmachtete - Fürther (Distrikts-)Rabbiner Loewi und sein Gemeindevorstand zu Vorkämpfern der Reform wurden - was allerdings relativ zu seinen seit 1872 in Nürnberg amtierenden liberalen Berufskollegen gesehen werden muss, denen Fürth immer als konservativ galt.
Da die Orthodoxen selbst alles andere als eine Rückkehr zu den Zuständen in den Klein- und Kleinstsynagogen des Alten Reiches anstrebten, sollten Begriffe wie „Reform“ und „Orthodoxie“ streng auf ihren religionsgeschichtlichen Inhalt beschränkt bleiben und nicht als Gegensatzpaar zur Beschreibung allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen wie der Judenemanzipation verwendet werden. Ansonsten referiert die Vf. hauptsächlich die Turbulenzen um die Besetzung der Fürther Rabbinerstelle seit 1820, was als Anspruch genügt hätte.
Ein noch tieferes Jammertal als das für Fürth konstatierte scheint sich in der Regierungshauptstadt aufzutun, da Alexander Biernoth in „Ansbachs jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert“ Klage führt (S. 112), dass seit 1867 „keine zusammenfassende und modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Abhandlung über die Geschichte der jüdischen Gemeinde Ansbachs mehr erschienen ist.“ Das hält ihn jedoch nicht davon ab, sechs seiner 19 Textseiten mit der ausschließlichen Wiedergabe dieses Werkes, Siegfried Haenles „Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstentum Ansbach“, zu bestreiten. Zum Themenschwerpunkt bietet er vier Seiten Exzerpt aus Schwarz’ „Die Juden in Bayern“ ohne unmittelbaren Ansbach-Bezug und die Wiedergabe einer unveröffentlichten Erlanger Staatsexamensarbeit von 1980. Letztere behandelt zwar die Situation in Ansbach seit dem „Judenedikt“, wird aber in ihren statistischen Aussagen zur Entwicklung der jüdischen Bevölkerung der Stadt (S. 128 f.) durch Antiinformationen wie „leicht zunahm und dann […] rapide kleiner wurde“ (ohne Nennung des Ausgangs- und Endwertes), „mehr als halbiert“ (lies: weniger als die Hälfte; wiederum ohne Ausgangswert) und schließlich „von da geht es mit der Größe der Kultusgemeinde bergab […]“ (sic) völlig entwertet.
Das in „Franconia Judaica“ mehrfach gebetete Mantra, der derzeitige Forschungsstand sei unbefriedigend, um dann genau diesen in seiner ganzen Bedürftigkeit abzuschreiben ohne einen Schritt über ihn hinauszugehen, wirkt befremdlich. Wer, wenn nicht die hier versammelten Fachleute, wird wann und wo die Ärmel hochkrempeln und die offenkundigen Mängel beseitigen?
Auf durch die vorhandene Sekundärliteratur vergleichsweise sicherem Terrain bewegt sich Alexander Schmidt mit seiner mit „’Achttausend Juden, die bestes Europa waren’. Jüdisches Leben und jüdische Kultur in der fränkischen Großstadt Nürnberg“ überschriebenen kurzen lokalgeschichtlichen Darstellung aus der Zwischenkriegszeit, vorwiegend anhand biografischer Vignetten über Alexander Abusch, Julie Meyer, Justus Bier, Anna Steuerwald-Landmann, Richard Lindner, Ida Herz, Else und Ida Dormitzer (keine KZ-Überlebende, wie auf S. 151 behauptet, sondern vor der Schoa emigriert), Isaak Bulka und Rabbiner Dr. Max Freundenthal. Gewagt erscheint es allerdings, mit dieser mehr oder minder beliebigen Auswahl von in Politik, Kunst und Wissenschaft aktiven Menschen die Existenz einer „jüdischen Kultur“ oder gar „Kulturszene“ in Nürnberg zwischen 1918 und 1933 zu implizieren, wie es sie in den Metropolen Berlin oder Wien gab. Das klingt nach dem positiven Vorurteil des omnipräsenten avantgardistischen jüdischen Elements in den Weimarer Jahren. Nürnberg war auch damals Provinz und mit ihm seine jüdischen wie nichtjüdischen Kulturschaffenden. Wer auf seinem Gebiet neue Wege beschreiten wollte, ging von hier weg, als Jude bereits weit vor der „Machtergreifung“ zusätzlich vertrieben vom geifernden Antisemiten Julius Streicher und seinem „Stürmer“.
Was die weltanschauliche Ausrichtung der gewählten Beispiele angeht, so muss der Vf. selbst zugeben, dass der Verleger und Buchhändler Isaak Bulka ein Anhänger der Orthodoxie osteuropäischer Prägung war und deshalb kaum mit liberalem Gedankengut sympathisierte. Max Freudenthal weisen seine Selbstzeugnisse als deutschnational eingestellt aus. Abgesehen von Abusch, dem späteren DDR-Kulturminister, und Steuerwald-Landmann hätte sich wohl keine der genannten Persönlichkeiten selbst als politisch linksstehend definiert - und nur eine Minderheit ihrem Judentum überhaupt eine Rolle bei dem zugemessen, was sie taten. Ein nachträgliches Aussortieren dieser Menschen aus ihren selbst gewählten Milieus nach ihrer Herkunft, um eine mehr oder weniger homogene jüdische Gruppe zu konstruieren, entspricht nicht den historischen Tatsachen und bringt deshalb auch keinen Erkenntnisgewinn.
Ohne theoretischen Überbau kommt Herbert Schott in seiner Schilderung von „Verfolgung und Deportation im Nationalsozialismus“ aus, einer Synopse der Deportationen aus Franken. Obwohl vom Vf. nicht wortreich beklagt, ist sein Text ein Memento an einen der eklatantesten Mängel in der einschlägigen Regionalforschung, nämlich das Fehlen einer fundierten Monographie oder zumindest Quellenedition zu den Verschleppungs- und Mordaktionen der Nazis zwischen 1941 und 1945 sowie ihrer juristischen Aufarbeitung in der Bundesrepublik. Als Material stehen hierfür z.B. die Würzburger Gestapoakten, die Fragmente der einschlägigen Polizeiüberlieferung in Nürnberg, die Unterlagen der „Reichsvereinigung der Juden“, die Akten der Nachkriegsprozesse gegen die Verantwortlichen sowie die Selbstzeugnisse der wenigen Überlebenden zur Verfügung. Die Richtigkeit einer gesamtfränkischen Herangehensweise kann wegen der organisatorischen Zusammenhänge zwischen Bamberg, Würzburg und Nürnberg und der notwendigen komplementären Auswertung der dort jeweils vorhandenen Archivalien nicht bezweifelt werden.
Schott, der als einer der wenigen Fachleute die staatlichen Würzburger und Nürnberger Bestände kennt und am Begleitband zur Wanderausstellung „Wege der Vernichtung“ (2003) mitgearbeitet hat, die einen Ansatzpunkt für eine solche Gesamtdarstellung bieten könnte, illustriert seinen Beitrag mit Gestapofotos aus Würzburg und Kitzingen, die er in Beziehung zu den schriftlichen amtlichen Quellen setzt, was ihre dem Leser den Hals zuschnürende Wirkung noch steigert. Zweifel hat der Rez. lediglich an der Aussage (S. 157), in Nazideutschland seien mehrere Todesurteile wegen „Rassenschande“ ausgesprochen worden. Ohne dass dies für den Betroffenen einen Unterschied gemacht hätte, wurde der Justizmord - auch im genannten Fall Katzenberger - mit anderen Straftatbeständen begründet, etwa dem Verstoß gegen das „Heimtückegesetz“.
Die Leiterin des mitveranstaltenden Jüdischen Museums Franken, Daniela Eisenstein, setzt mit ihren die Sammlung abschließenden Ausführungen da an, wo mehr endete als anfing: In „Schicksalsgemeinschaften. Jüdisches Leben in Bayern seit 1945“ betont sie den totalen Bruch der jahrhundertealten Traditionen durch die Schoa, auch wenn Kontinuitäten im Personal der neu gegründeten Gemeinden bestanden. Ebenso klar werden die internen und externen Probleme der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland damals und seit 1990 angesprochen. Der Ausblick der Vf. fällt entsprechend verhalten aus: Neues authentisches jüdisches Leben in Bayern wird erst entstehen, wenn es den Kultusgemeinden und ihren Mitgliedern gelingt, ihr Judentum religiös und gesellschaftlich zeitgemäß zu definieren.

Allenthalben besteht also Handlungsbedarf, auch bei der Erforschung der fränkisch-jüdischen Geschichte vor 1945, deren letzte Zeugen und Akteure noch unter uns leben, die in dem Band aber leider nicht zu Wort kommen, um vielleicht das eine oder andere Klischee geradezurücken. Auf ihr Mitwirken sollte aber ebenso wenig verzichtet werden wie auf die durch die Zeitläufte weit verstreuten und ohnehin nur mehr fragmentarisch erhaltenen jüdischen Quellen (Unterlagen der Gemeinden, private Provenienzen), um der Gefahr einer Verzerrung durch die Sicht der Verwaltungsakten zu begegnen, insbesondere wenn Aussagen zum Innenleben der jüdischen Gemeinschaft und der sich wandelnden Selbstwahrnehmung der ihr angehörenden Individuen gemacht werden sollen. Zusätzlich prekär wird die Situation dadurch, dass hier viel vom jeweiligen Wissen der meist nichtjüdischen Forscher(innen) über das Judentum abhängt. Doch auch im günstigsten Falle wurde niemand versuchen, etwa die Geschichte einer Kirchengemeinde ohne deren originäre Überlieferung zu schreiben. Hier wäre es auch überflüssig festzustellen, dass sich das Leben einer Pfarrei nicht allein durch die theologische Ausrichtung des Pfarrers, die Zusammensetzung des Pfarrgemeinderates oder die vorhandenen Ritualien charakterisieren lässt. Umso weniger genügen solche Kriterien zur Beschreibung eines durch die Verbindung von Gottesdienst und Alltag vielschichtig verwobenen Gebildes wie einer jüdischen Gemeinde, der durch ihren Minderheitenstatus für ihre Mitglieder noch ganz andere Qualitäten zukamen als den Organisationen der christlichen Mehrheitsbevölkerung.
Regionale und lokale jüdische Geschichtsschreibung bleibt eine schwierige Aufgabe und deshalb da weiterhin eine Domäne von bis zur Selbstausbeutung motivierten Einzelkämpfer(inne)n, wo sie Neuland betritt und Grundlegendes schafft. Als hervorragende Beispiele seien hier nur Reiner Strätz und sein zweibändiges „Biographisches Handbuch Würzburger Juden 1900-1945“ (1989), die Forschungen Gisela Naomi Blumes zu den Opfern des Holocaust aus Fürth (Gedenkbuch 1997) und dem dortigen alten jüdischen Friedhof (Inventar 2007) und die an Fakten überreiche Beschreibung des Georgensgmünder Friedhofs durch Peter Kuhn (2006) genannt. Es ist zu wünschen, dass so qualitätvolle Arbeiten die Unterstützung und Anerkennung finden, die sie verdienen.

Links:

Falk Wiesemann: Judaica bavarica. Neue Bibliographie zur Geschichte der Juden in Bayern

Das "Edikt vom 10. Juni 1813 über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern"

Die Judenmatrikel 1813 - 1861 für Mittelfranken

Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933

Gisela Naomi Blume: Gedenke - Remember - Yizkor. Zum Gedenken an die von den Nazis ermordeten Fürther Juden 1933 - 1945

Gisela Naomi Blume: Der alte jüdische Friedhof in Fürth 1607 - 2007

Peter Kuhn: Jüdischer Friedhof Georgensgmünd

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Autor: rijo

Datum: 17.11.2007

Titel (Selbstanzeige): Gisela Naomi Blume: Der alte jüdische Friedhof in Fürth 1607 - 2007. Geschichte - Riten - Dokumentation. ISBN 3-89014-280-X. EUR 29,80. Verkauf über den Buchhandel und die Israelitische Kultusgemeinde Fürth, Blumenstraße 31, 90762 Fürth, E-Mail: ikg-fuerth[at]gmx.de

 

 

Der alte jüdische Friedhof in Fürth wurde gut drei Jahrhunderte lang genutzt. Die erste Beerdigung fand im November 1607, die letzte im April 1936 statt. Für diesen Zeitraum lassen sich rund 20.000 Beerdigungen nachweisen. Heute sind noch rund 6300 Grabsteine vorhanden; der älteste noch lesbare Stein datiert von 1654. Die Grabsteine auf dem alten jüdischen Friedhof spiegeln die Geschichte der bedeutenden jüdischen Gemeinde in Fürth, die im 17. und 18. Jahrhundert eine herausragende Stellung in Deutschland hatte. Auf dem Friedhof sind hoch gelehrte Rabbiner von internationalem Rang wie Bärmann Fraenkel (um 1670 - 1708) und Josef Steinhart (1700 - 1776) sowie die bedeutenden Druckereibesitzer Jehuda Schneior (gest. 1713) und Isaak David Zirndorfer (1776 - 1855) begraben.
Aus dem 19. Jahrhundert finden sich viele Namen, die Wirtschaft, Politik, öffentliches Leben und Kultur in Fürth maßgeblich geprägt haben und die durch ihre Stiftungen oder durch Straßennamen in der Stadt nach wie vor präsent sind, wie Alfred Nathan (1870 - 1922), Stifter des „Nathan-Stiftes“ und Ehrenbürger der Stadt Fürth. Den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung, den Fürth im 19. Jahrhundert erlebte, repräsentieren der Bleistiftfabrikant Leopold Illfelder (1809 - 1901), der Bankier Salomon Berolzheimer (1811 - 1886), der Brauereibesitzer Wilhelm Mailaender (1820 - 1871) sowie der Spiegelfabrikant und königlich bayerische Kommerzienrat Ludwig Bendit (1825 - 1908).
Das 400 Seiten starke, reich bebilderte Buch beginnt mit einleitenden Essays zur Geschichte des Friedhofs, zum jüdischen Begräbniswesen, zur Totenbruderschaft (Chewra Kadischa) sowie zum jüdischen Kalender. In diesem Abschnitt wird eine ganze Reihe von bislang nicht bekannten Planzeichnungen, bildlichen Darstellungen und Fotos erstmals der interessierten Öffentlichkeit präsentiert.

Der zweite Teil des Buches umfasst etwa 250 Grabsteine vom 17. bis zum 20. Jahrhundert mit Transkriptionen und Übersetzungen der hebräischen Inschriften sowie biographischen Angaben zu den Verstorbenen.

Link:

Chronologie der jüdischen Gemeinde in Fürth bis 1945

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 11.08.2007

Titel: Tessa Debus, Regina Kreide, Michael Krennerich, Anja Mihr (Hg.): zeitschrift für menschenrechte / journal for human rights. Jg. 1, Nr. 1 (2007), Thema: Menschenrechte und Terrorismus. 158 S., 15,40 EUR. ISSN 1864-6492.




Das Vorhaben, eine neue wissenschaftliche Zeitschrift mit Redaktionssitz in Nürnberg etablieren zu wollen, zeugt zweifellos vom Optimismus ihrer Herausgeber(innen). Eben dies hat sich das Nürnberger Menschenrechtszentrum mit der jetzt erstmals erschienenen zeitschrift für menschenrechte (zfmr) zum Ziel gesetzt, die als interdisziplinäres Forum dienen und - über Fachkreise hinaus - zur öffentlichen Diskussion und somit „Stärkung des Menschenrechtsdiskurses“ beitragen soll, so Heiner Bielefeldt im Vorwort (S. 6).
Das vom Schwalbacher Wochenschau Verlag mitgetragene Projekt, dessen Ergebnisse künftig zweimal im Jahr veröffentlicht werden, macht mit seinem zurückhaltend-sachlichen Layout und der soliden Redaktionsarbeit einen positiven ersten Eindruck. Inhaltlich und formal erfüllen die Beiträge alle wissenschaftlichen Standards und bieten mit ihren Literatur- und Quellenangaben die Gelegenheit zur Vertiefung der jeweiligen Gegenstände. Aktuelle Bücher werden in einem den Band beschließenden Rezensionsteil vorgestellt.

Ebenso öffentlichkeitswirksam wie folgerichtig packt die erste Nummer der zfmr gleich ein aktuelles heißes Eisen an: Den von den USA seit dem 11. September 2001 ausgerufenen „war on terror“ und seine Konsequenzen für die Menschenrechte bzw. die Wechselwirkungen zwischen ihnen und dem globalen Terrorismus. Wie vielfältig, ja mitunter irritierend widersprüchlich die Aspekte dieser auf den unterschiedlichsten Ebenen (Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik, Völker- und Verfassungsrecht) miteinander verknüpften Problemfeldern sind, zeigen die Aussagen im Heft und regen so auch den interessierten Laien zum Nachdenken an.
Die beiden ersten, englischsprachigen Texte stellen den internationalen rechtlichen und institutionellen Rahmen und seine Entwicklung in den Vordergrund. Dass Martin Scheinin („Terrorism and Human Rights“) dabei daran erinnern muss, „that there are fundamental rights of the individual that must be respected under all circumstances, including when confronted with terrorism, and irrespective of whether a state of emergency has been officially proclaimed or not“ (S. 11), zeigt die um sich greifende Tendenz zur Relativierung der Menschenrechte, die nach Ausweitung ihrer Macht strebende Regierungen fördern. Sie machen sich dabei die auch vom Autor konstatierte Schwäche der international anerkannten Menschenrechte zunutze, keine Handhabe gegen nichtstaatliche Rechtsbrecher, sprich Terroristen, zu bieten. Derlei Mängel und der allenthalben geforderte Vorrang der Terrorismusbekämpfung erleichtern den Befürwortern einer Beschneidung der Menschenrechte, diese in einem schleichenden Prozess auszuhöhlen.
Wie George Andreopoulos („The Human Rights / Humanitarian Framework in the Age of Terror“) anhand der Antiterrorismus-Aktivitäten des UN-Sicherheitsrates seit dem 09.11.2001 überzeugend darlegt, wirkt diese Dynamik nicht nur auf nationaler Ebene. Sogar die Vereinten Nationen haben Anteil an der Aufweichung der 1948 von ihnen selbst aufgestellten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, indem z.B. undemokratische Staaten, die im weltweiten Antiterrorkrieg Schlüsselpositionen einnehmen, an anderen Maßstäben gemessen werden als politisch unliebsame Nationen. Die Hoffnung des Autors, die dadurch eingetretene Entfremdung zwischen der Staatenvereinigung und NGOs überwinden zu können, die bei der Verwirklichung der Menschenrechte mittlerweile eine unverzichtbare Rolle spielen und auf allgemeingültigen Standards beharren, dürfte angesichts der gerade bei der Terrorbekämpfung praktizierten, zunehmend prinzipienlosen „Realpolitik“ wohl ein frommer Wunsch bleiben.
Primär innerstaatliche Aspekte des titelgebenden Spannungsfeldes greift Walter Reese-Schäfer in seinem Beitrag „Sicherheit, Freiheit und Terrorismus“ auf, einem Plädoyer für eine „militant democracy“. Seine Argumentation leitet sich ebenso wie die Begrifflichkeit von den Erfahrung der Weimarer Republik ab: Es war der deutsch-jüdische Emigrant Karl Loewenstein in den USA, der erstmals eine - frei übersetzt - wehrhafte Demokratie forderte und ihr ein Selbstverteidigungsrecht gegen Faschismen einräumte, die die Möglichkeit der Massenagitation und damit -emotionalisierung brauchen (S. 40). Da „aber für die Vernunft [...] kaum jemand zu sterben bereit“ ist (S. 41), muss sich nach Reese-Schäfer der demokratische Staat auch mit gesetzlichen Mitteln gegen seine Zerstörung wehren können. Heute gehen extreme Vertreter des staatlichen Selbstverteidigungsrechtes wie in den USA Michael Ignatieff, Lehrstuhlinhaber für Menschenrechtspolitik an der Universität Harvard, soweit, ihm sogar einschränkende Wirkung auf die Menschenrechte zuzubilligen. Der Autor differenziert Ignatieffs „Moral des kleineren Übels“ von befristeten und zu rechtfertigenden Menschenrechtsbeschränkungen, wenn der Staat und die Unversehrtheit seiner Bürger(innen) - ebenfalls ein Menschenrecht! - durch Terrorakte gefährdet sind. Trotz offenkundiger Sympathie für diesen Standpunkt kommt aber auch er nicht um das Eingeständnis herum, dass man sich hier v.a. bei der Prävention auf dünnstes Eis begibt, da eine zeitliche Beschränkung von Eingriffen in die Menschenrechte im dem Verbrechen vorgelagerten Bereich unmöglich ist und den Staatsorganen einen durch nichts zu rechtfertigenden Machtzuwachs verschafft. Bei der Kosten-Nutzen-Analyse des „militant democracy“-Konzepts kommt Reese-Schäfer dennoch zu einer positiven Bilanz, ist sich aber der Aporie des Verfassungsschutzes durch die (zeitweise) Beschneidung der Menschenrechte bewusst. Weshalb ein Staatswesen, das sich einmal auf diese schiefe Ebene der Relativierung der Menschenrechte begeben hat, nicht in eine Diktatur kippen sollte, kann der Autor nicht begründen. Doch selbst wenn man diese Gefahr in Kauf nehmen wollte, bleibt die immanente Schwäche des pluralistisch-rechtstaatlichen Systems, in seinen Aktionen zu jedem Zeitpunkt an Recht und Gesetz gebunden zu sein und auf Angriffe von innen und außen letztlich nur defensiv reagieren zu können, um unserer Freiheit willen bestehen. Und für sie, die zentrale Rechtfertigung der Existenz jedes demokratischen Staates, waren in der Geschichte erwiesenermaßen schon Millionen bereit zu sterben.
Da Reese-Schäfer die Fallstricke seiner bzw. Ignatieffs Argumentation bereits benennt, wirkt Hauke Brunkhorsts „Vorrang der Sicherheit? Eine Replik auf Walter Reese-Schäfers Plädoyer für einen aggressiven Neo-Etatismus“ alarmistisch, zumal er zu dem völlig überzogenen Schluss kommt, der amerikanische Innenminister und Vizepräsident seien „in der Tat eine größere Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat [...] als Osama bin Laden ...“ (S. 54). Der Autor schießt hier deutlich über das Ziel hinaus, indem er demokratische Politiker als in ihrer Wirkung verheerender brandmarkt als einen Massenmörder. Dasselbe könnte man rückblickend über Chamberlain bzw. Daladier und Hitler sagen, die durch ihr Appeasement den Vernichtungskrieg der Nazis zumindest ermutigten und die westliche Welt an den Rand des Untergangs brachten. Wem ist mit solchen Vergleichen gedient und was für Lehren kann man aus ihnen ziehen? Eigentlich nur, dass man gar nicht zu polemisieren braucht, wenn die intellektuelle Gegenposition so klaffende theoretische Schwächen aufweist.
Deutlich instruktiver ist Manfred Nowaks „Die Aushöhlung des Folterverbots im Kampf gegen den Terrorismus“. Der Beitrag zeigt am Beispiel der sanktionierten Misshandlung und dauernden Inhaftierung von Terrorverdächtigen in (nur vermeintlich) rechtsfreien Räumen wie der US-Militärbasis Guantánamo Bay, wie weit der staatlicherseits nicht nur geduldete, sondern durch juristisch-definitorische Verrenkungen gedeckte Bruch von Menschenrechten seit 9/11 bereits fortgeschritten ist. Der stattgehabte Paradigmenwechsel, kondensiert im widersinnigen Unwort der „Rettungsfolter“, wird detailliert beschrieben, seine mit der zeitlichen Dauer des „Krieges gegen den Terror“ wachsende Haltlosigkeit sachlich analysiert. Betrachtet man diese rechtliche und ethische „Twilight Zone“, mit der ein schwacher und der Situation zu keinem Zeitpunkt gewachsener US-Präsident das Ansehen seiner Nation als Vorbild für die Verwirklichung von Freiheit und individueller Selbstbestimmung nachhaltiger beschädigt hat als Watergate und Vietnamkrieg zusammen, kann man sich nur dem Wunsch des Autors anschließen, dass die Verantwortlichen für Folterungen nach denselben rechtsstaatlichen Normen be- und ggf. verurteilt werden, die sie angeblich verteidigen.
Aber nichts scheint in diesem Zusammenhang heute mehr selbstverständlich, weshalb Georg Lohmann in seinem Aufsatz „Das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden, und die Grenzen des Rechtsstaates“ eine moralisch, rechtsethisch und historisch wohl begründete Philippika gegen das Foltern unter allen Umständen formulieren muss, wobei die geäußerten Selbstzweifel von Realitätssinn zeugen: „[...] der moderne Rechtsstaat ist nicht perfekt, hat keine rechtsimmanente perfekte und absolute Lösung für alles, und kann insbesondere seine Ziele, nämlich Schutz und Gewähr für die Freiheit und für Leib, Leben und Wohl seiner Bürger da zu sein, nicht absolut gewährleisten“ (S. 84). Dem kann man nur noch pragmatisch anfügen, dass die Ächtung der Folter nicht zuletzt aus der Erkenntnis der regelmäßigen Unbrauchbarkeit ihrer Ergebnisse resultierte. Umso erstaunlicher, dass sich deutsche Politiker, Polizisten und Juristen allen Ernstes über ein so abseitiges Thema wie Verhörmethoden unter Gewaltandrohung verbreiten und diese 'Diskussion' begierig von den Medien aufgegriffen und ventiliert wird (s. den Fall Daschner in Frankfurt). Der Verdacht drängt sich auf, dass hier der Öffentlichkeit ein makabres Schauspiel geboten wird, um sich einerseits populistisch zu profilieren und andererseits auf gesellschaftlich wirklich relevanten Baustellen ungestört weiterwursteln zu können.
Wie jedes Sammelwerk hat die zfmr stärkere und schwächere Texte zu bieten. So hinterlässt der die Rubrik „Hintergrund“ einleitende und unter dem harmlosen Titel „Die kulturelle Vermittlung der Menschenrechte“ daherkommende Beitrag von Abdullahi A. An-Na’im, nota bene Rechtsprofessor im amerikanischen Atlanta, einen faden Nachgeschmack, da man beim Lesen das Gefühl nicht loswird, dass hier die durchgehend beschworene Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte tatsächlich unter dem Deckmäntelchen ihrer Vermittlung bei Berücksichtigung vage formulierter, regional unterschiedlicher Traditionen ausgehebelt werden soll, zugespitzt gesagt jeweils ein folkloristisch angepasster Menschenrechtskatalog für das konfuzianisch geprägte, undemokratische China, das hinduistische Indien zur Wahrung seines Kastenwesens und alle Staaten, die die islamische Scharia als göttliches Recht ansehen. Der Autor versucht diese Melange als Entkolonialisierung der von der europäischen Aufklärung formulierten Menschenrechte zu verkaufen, um ihre Akzeptanz in anderen Kulturkreisen zu erhöhen. Die Antwort, was nach diesem Prozess noch als verbindliche Werte übrigbleiben soll und wer diese bestimmt - niemand würde einer nicht demokratisch legitimierten, noch so mächtigen Gruppe in Europa eine solche Definitionshoheit einräumen - muss der Autor schuldig bleiben, da Tradition, Religion und Dogmen immer gegen die Aufklärung gerichtet sind und deshalb nicht als Begründung ihrer Ergebnisse dienen können.
Ein relevanterer Beitrag zum Titelthema ist Constanze A. Schimmels „Der Einsatz privater Militärunternehmen - völkerrechtliche Einordnung, Regulierung und Verantwortlichkeiten“. Knapp und präzise wird diese bewusst von Auftraggebern und -nehmern geschaffene und ständig expandierende Grauzone der Kriegsführung im 21. Jahrhundert beschrieben und analysiert. Menschenrechtsverletzungen im Rahmen von solchen 'militärischen Dienstleistungen' für Staaten, aber auch private Hintermänner, entziehen sich der Ahndung, während Angestellten dieser Firmen nicht einmal die grundlegenden Schutzrechte der Haager Landkriegsordnung oder Genfer Konvention zustehen, da sie von ihnen i.d.R. definitorisch weder als Kombattanten noch Zivilisten erfasst werden. Schimmel sieht hier naheliegenderweise einen erheblichen und drängenden juristischen Regulierungsbedarf, der aber eine Einigung zwischen den Staaten, in denen die Unternehmen ihren Sitz haben, und den Einsatzländern darüber voraussetzen würde, welche Rechte und Pflichten diese 'Dienstleister' haben, um sie ggf. zur Verantwortung ziehen zu können.
Die Rubrik „Forum“ der zfmr nutzt der „Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung im Auswärtigen Amt“, Günter Nooke, legitimerweise in einem knackig mit „Kein Menschenrechtsrabatt in der Terrorismusbekämpfung“ betitelten Interview zur Selbstdarstellung. Was er aber konkret mit seiner Erfurcht heischenden Titulatur bewirken kann, wird dem Laienleser trotz Wortreichtums nicht transparent. Obwohl sich Nooke „weder bei Besuchen im Ausland, bei Menschenrechtsdialogen mit anderen Staaten oder z.B. auch in Genf beim Menschenrechtsrat naiv über den Tisch ziehen“ lässt (S. 114), muss er z.B. bei Kritik an der Menschenrechtssituation in Russland letztlich eingestehen: „Das Wort der Kanzlerin oder des Ministers zählen hier natürlich ganz anders als das des Menschenrechtsbeauftragten“ (S. 116). Aber selbst diese werden Präsident Putin keine Schweißperlen auf die Stirn treten lassen, solange Westeuropa sein Erdgas kauft.
Ebenfalls das Problem regional unterschiedlicher Lesarten der Menschenrechte greift „Das Paradox der Menschenrechte und die mangelnde Sensibilität im Umgang mit der Vergangenheit in Peru“ auf, ein Interview mit dem peruanischen Philosophieprofessor Miguel Giusti, wobei er sich im Gegensatz zu An-Na’im klar zu ihrer globalen und unteilbaren Gültigkeit bekennt, auch für sein Land, das er in dem heute weitverbreiteten Dilemma zwischen dem Primat des Wirtschaftswachstums und der Verwirklichung der Menschenrechte sieht.
Ein Resümee der ersten Nummer der zfmr bleibt dem Mitherausgeber Michael Krennerich in seiner Tour d’Horizon „Von der Menschenrechtspolitik hin zu einer Politik der Menschenrechte“ vorbehalten. Nach einem kurzen Überblick über die Kodifizierung der Menschenrechte, die Entwicklung der international an ihrer Verwirklichung beteiligten Institutionen und einer kritischen Würdigung der einschlägigen Aktivitäten der jetzigen Bundesregierung benennt er die aktuellen Gefährdungen der Menschenrechte (Stichwörter: „war on terror“, die wachsende Zahl instabiler Staatswesen, die die Rechte ihrer Bürger nicht wirksam schützen können, globale Armut), um zuletzt „eine menschenrechtliche Bindung der Wirtschaft“ (S. 130) und angemessene Würdigung von Umweltproblemen zu fordern, die für viele Menschen eine existentielle Bedrohung darstellen.

Vorstehende Ausführungen mögen belegen, dass die erste Ausgabe der zeitschrift für menschenrechte ihrem Publikum vielfältige Gelegenheiten bietet, um in der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand des Wissenschaftsdiskurses eigene Reflexionen anzustellen und den gerade bei einem scheinbar so entrückten und abstrakten Gegenstand wie den Menschenrechten dringend nötigen Transfer in die Lebenswirklichkeit zu leisten. Deshalb wäre es sehr wünschenswert, wenn die zfmr den eingeschlagenen Weg fortsetzen und so nebenbei auch den Anspruch Nürnbergs als „Stadt der Menschenrechte“ mit konkretem Inhalt füllen könnte.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 13.07.2007

Titel: Ulrike Goeken-Haidl: Der Weg zurück. Die Repatriierung sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Klartext, Essen 2006. 573 S., ISBN 978-3-89861-615-7.




In diesem Buch wird erstmals in deutscher Sprache versucht, anhand objektiv ausgewählter und aussagefähiger Quellen das prägende Ereignis im Leben von über fünf Millionen Menschen darzustellen. Angesichts dieses selbst gestellten - und erfüllten - Anspruchs sind sein enzyklopädischer Umfang von 573 Seiten angemessen und seine Schwächen nachsehbar.
Um zu zeigen, dass es hierbei nicht um abstrakte Statistik geht, sondern menschliche Schicksale, ein Fall aus der archivischen Praxis, der dem mit der komplexen Materie halbwegs Vertrauten fast noch unglaublicher erscheint als dem Laien: Mehr als 60 Jahre nach Kriegsende, im Juni 2007, gelingt es einem mittlerweile in Österreich lebenden gebürtigen Nürnberger, die ukrainische Magd, die als Zwangsarbeiterin während des Zweiten Weltkriegs auf dem Bauernhof seiner Eltern im Knoblauchsland diente und zugleich sein Kindermädchen war, in ihrer Heimat ausfindig zu machen. Alles, was er zunächst von ihr wusste, waren ihr Vor- und Familienname, Geburtsdatum sowie -ort und der Zeitpunkt ihrer Ankunft in Deutschland. Die zuständigen deutschen Archive konnten diese Angaben zwar präzisieren - schon das wegen der lückenhaften Überlieferung eher die Ausnahme -, das dokumentarische „schwarze Loch“ zwischen Befreiung und Repatriierung musste der Suchende aber selbst durch Kontakte in die Ukraine schließen. Dass ihm dies, noch erschwert durch den Namenswechsel bei der Verheiratung der Frau, gelang, grenzt an ein Wunder.
Wie in „Der Weg zurück“ eingehend dargestellt, war die „Filtration“, d.h. die möglichst lückenlose Erfassung und geheimdienstliche Überprüfung der Repatrianten (ehemalige Kriegsgefangene und Zivilarbeiter im deutschen Machtbereich) eine Priorität der sowjetischen Behörden. Trotz vieler Unzulänglichkeiten bei der Durchführung dieser Aufgabe entstanden so nach Regalkilometern zählende Serien von Karteien und geschätzten 3,5 Millionen Einzelfallakten, die jedoch heute wegen ihrer Verteilung auf regionale KGB-Bestände, mangelnder Systematik und Ordnung und den in den Nachfolgestaaten der UdSSR geltenden Rechtsvorschriften nur selten zugänglich sind. Und auch die Betroffenen legten vor dem Beginn der deutschen Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter seit dem Jahr 2000 keinen Wert darauf, als solche öffentlich in Erscheinung zu treten, da „Kriegsgefangenschaft bzw. Zwangsarbeit in Deutschland […] als Makel in der Biographie [galten], den der Betreffende regelmäßig zu verbergen trachtete“ (S. 23) und sie ihre Verschleppung zuhause oft zu Außenseitern gemacht hatte, die zusätzlich zum Kriegstrauma ihr Leben lang unter Misstrauen, Geringschätzung und beruflichen Nachteilen zu leiden hatten.
Wie es zu dieser doppelten Opferrolle der Sowjetbürger kam, stellt „Der Weg zurück“ unter Berücksichtigung der vielfältigen politischen, militärisch-logistischen, völkerrechtlichen und nicht zuletzt moralischen Aspekte ihrer Repatriierung dar. Dieses Vorhaben konnte nur gelingen, weil die Vf.in über die doppelte Sprachfähigkeit des Englischen und Russischen verfügt und sie damit gleichermaßen die Quellen in Russland, Weißrussland und den USA sowie die einschlägige fremdsprachige Forschungsliteratur verwenden konnte. Hinzu kommt der geschichtliche Kairos, dass zum Zeitpunkt ihrer Recherchen bis Mitte der 1990er Jahre die Benutzungspraxis in den russischen und weißrussischen Archiven im Vergleich zu heute trotz Einschränkungen relativ liberal war. Das Ergebnis ist ein Grundlagenwerk aus der Schule des Freiburger Zwangsarbeitsexperten Ulrich Herbert, welches zusätzlich vom flüssigen und gut lesbaren Schreibstil der Vf.in profitiert.

Gleich zu Anfang wartet „Der Weg zurück“ mit einem Scoop auf, der Klärung der Umstände des Todes von Jakov Dschugaschwili, des Sohnes Stalins aus erster Ehe, der 1943 in der Gefangenschaft Selbstmord beging, was die Vf.in anhand bisher unbekannter deutscher Beutedokumente in US-Archiven beweist. Der Fall des prominentesten gefangenen Rotarmisten wird aber nicht nur deswegen geschildert, sondern vor allem als Beweis für die Wirkung der Befehle Stalins, insbesondere der Nr. 270 vom 16.08.1941, die Gefangengabe bei Bewusstsein mit Desertion und Vaterlandsverrat gleichsetzten. Nicht einmal - oder nach „Uncle Joe’s“ zynischer Logik gerade nicht - sein eigener Sohn war vor den lebensgefährlichen Konsequenzen dieser menschenverachtenden Bestimmungen sicher. Diese Aussichten, noch verdüstert durch das wahrheitswidrige Ausschlachten seiner Inhaftierung durch die Propagandamaschine der Nazis, trieben den jungen Oberleutnant Dschugaschwili in den Tod.
Im folgenden, gut die Hälfte des Buches umfassenden ersten Hauptteil (S. 33 - 383) legt die Vf.in den Schwerpunkt auf die Darstellung der Spannungen bei der Repatriierung zwischen den amerikanischen und britischen Alliierten einerseits und den Sowjets andererseits sowie die DP-Problematik allgemein, wobei sie sich entsprechend den hierfür verwendeten amerikanischen und sowjetischen Quellen meist auf der Makroebene von Ministerien, militärischen Oberkommandos und Stäben, interalliierten Gremien und der Diplomatie bewegt. Initiiert wurde die amtlich angeordnete Völkerwanderung durch die bereits auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 gemachte Zusage Roosevelts und Churchills, sämtliche Sowjetbürger aus den von ihren Truppen befreiten Gebieten rückzuführen. Wie die Vf.in überzeugend beweisen kann, war diese letztlich auch Zwangsmaßnahmen einschließende Festlegung der Westmächte begründet in der Rücksichtnahme auf die eigenen Kriegsgefangenen, die sich noch im Bereich der vorrückenden Roten Armee befanden. Wie das Schicksal der westalliierten Soldaten in der von Japan besetzten Mandschurei zeigte (S. 350 - 361), die noch im August 1945 in die Hände der Sowjets fielen, waren Bedenken hinsichtlich ihrer Behandlung nicht unbegründet: Die Repatriierung der ca. 2000 Amerikaner, Briten und Holländer, darunter auch Generale, zog sich bis zum November 1945 hin. Aber schon zuvor hatten die in Ostdeutschland befreiten amerikanischen und britischen Soldaten gedroht, zum Faustpfand für Stalins Forderungen in Bezug auf seine eigenen Landsleute zu werden.
Die Amerikaner und Briten waren schon seit dem D-Day mit den Massen von Sowjetbürgern im deutschen Machtbereich konfrontiert, als in kurzer Zeit tausende Ukrainer, Russen und Weißrussen in Wehrmachtsuniformen in ihren Gewahrsam kamen. Im November 1944 füllten 19.500 von ihnen die in England eingerichteten Sammellager. Weitere Kriegsgefangene wurden in die USA verschifft.
Die schiere Menge, aber auch die praktische Schwierigkeit, wer als Sowjetbürger zu gelten hatte, machte eine Präzisierung der Repatriierungsregelungen nötig, die am 22.05.1945 im Abkommen von Halle fixiert wurde (S. 214). Seine Kernaussage lautete, dass Menschen, die aus Ländern stammten, die erst nach dem 01.09.1939 zur Sowjetunion gekommen waren, also primär Balten und Ostpolen bzw. Westukrainer, von der obligatorischen Heimführung ausgenommen wurden. Für die Lokalgeschichte erklärt diese Festlegung die Einrichtung des Valka-Lagers in Langwasser für „Displaced Persons“ aus dem Baltikum, die nicht in ihre jetzt im kommunistischen Machtbereich gelegenen Heimatländer zurückkehren wollten.
So definiert übergaben die Westalliierten bis September 1945 gut zwei Millionen Sowjetbürger der Roten Armee und dem Geheimdienst NKVD, wobei die weit überwiegende Mehrheit der Repatrianten freiwillig den titelgebenden „Weg zurück“ in die UdSSR antrat, obwohl gerade die Kriegsgefangenen unter ihnen wissen mussten, was sie dort erwartete. Schlagendster Beweis für den brennenden Wunsch der Betroffenen nach einem Wiedersehen von Heimat, Familie und Freunden waren die 100.000 Litauer, Esten und Letten sowie 50.000 Ostpolen, die sich bis Ende März 1946 ohne äußeren Druck auf die Reise nach dem Osten machten (S. 525).
Aus Sicht der Westalliierten war die Rückführung der Masse der gefangenen und verschleppten Sowjetbürger im Jahre 1945 ein Erfolg, für den sie erhebliche personelle und logistische Kapazitäten zur Verfügung stellten. Als Probleme blieben ihnen der nicht-repatriierungswillige Rest der DPs - und z.B. in der US-Besatzungszone bis zu ihrem regelrechten Rauswurf im Mai 1949 die sowjetischen Repatriierungsoffiziere, die ursprünglich die Rücktransporte mit organisieren und unter ihren Landsleuten für eine Heimkehr werben sollten, deren Aktivitäten aber faktisch zunehmend kontraproduktiv wirkten: Ihr Erscheinen in DP-Camps führte zu Ausschreitungen der Insassen gegen sie und das Wachpersonal, ständige Beschwerden über die Behandlung insbesondere durch die Amerikaner, denen die versuchte Indoktrination der Sowjetbürger unterstellt wurde, sowie Spionagetätigkeit diskreditierten die Repräsentanten der Roten Armee und trugen ihren Teil zum Entstehen des Kalten Krieges bei. Gleichzeitig trat im Westen ein Wandel in der öffentlichen Meinung über die Repatriierungen in die Sowjetunion ein, nicht zuletzt unter dem Einfluss antikommunistischer Emigrantenkreise. Dramatische Ereignisse wie der vierzehnfache Massenselbstmord bei der zwangsweisen Rückführung von ehemaligen Angehörigen der Wlasov-Armee aus dem Internierungslager Dachau am 19.01.1946 und ihre Verbreitung durch die Medien machten für die demokratischen Regierungen des Westens eine Fortsetzung ihrer Auslieferungspraxis unmöglich - und schufen als langfristige Hypothek die Problematik der unter falscher Identität in die USA, Kanada und Großbritannien ausgewanderten Kriegsverbrecher, deren Existenz erst in den 1990er Jahren in das Bewusstsein der Öffentlichkeit trat.
An dieser Stelle muss ein grundlegender Kritikpunkt an „Der Weg zurück“ angesprochen werden, eigentlich ein Luxusproblem, das aber bisweilen die Aufnahmefähigkeit des Lesers auf eine harte Probe stellt: Die Darstellung droht immer wieder an der schieren Masse der gebotenen Information zu ersticken. Als willkürlich herausgepicktes Beispiel hierfür kann der spannende Exkurs über die weitgehend unbekannte, da später von der kommunistischen Propaganda in beiden Ländern totgeschwiegene Beteiligung von Wlasov-Truppen an der Befreiung Prags im April 1945 dienen. So faszinierend diese Episode in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs ist: Kaum ein Leser wird sie, versteckt in einer fast halbseitigen Fußnote (S. 371 f.) angemessen rezipieren können. Dem Forscher über diese höchst umstrittene antibolschewistische Hilfstruppe Hitlers bleibt sie unbekannt - außer er stößt mittels Google auf diese Rezension, was angesichts des enormen Recherche- und Schreibaufwands der Vf.in mehr als bedauerlich ist.

Der zweite Hauptabschnitt des Buchs (ab S. 385) schildert minutiös die Filtration der Heimkehrer auf sowjetischer Seite und betritt damit wissenschaftliches Neuland. Gestützt vor allem auf Akten aus russischen Archiven werden die Organisationsstrukturen und der Weg der Repatrianten von den interalliierten Übergabepunkten in die Filtrationslager zur Überprüfung durch die sowjetische Spionageabwehr „Schmersch“ bis zu ihrem Weitertransport beschrieben. Dabei kam es in der Praxis nicht nur wegen der mangelhaften organisatorischen Vorbereitung auf die zurückströmenden Soldaten- und Arbeiterheere zu erheblichen Friktionen: Die ursprünglich geplante strikte Trennung von Kriegsgefangenen und ehemaligen Zwangsarbeitern verwischte sich, die drohende Versorgungskatastrophe in den Lagern wurde nur durch eine von den Vorgaben erheblich abweichende, improvisierende bis völlig chaotische Realität der Durchschleusung abgewendet, durch die es gelang, bis 01.08.1945 von den zu diesem Zeitpunkt in Sammellagern der Roten Armee bzw. des Geheimdienstes NKVD befindlichen 2,4 Millionen Insassen 550.000 in die Sowjetunion zu entlassen.
In den Lagern war das Verhältnis zwischen den Bewachungsmannschaften und den Repatrianten gekennzeichnet von der Indoktrination der Soldaten, die ihre heimkehrenden Landsleute mit Misstrauen und Verachtung ansahen. Die Folge waren Willkürakte wie Vergewaltigungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Anwendung unnötiger Gewalt, denen sich die Betroffenen durch Flucht entzogen oder auf die sie ihrerseits mit Anschlägen auf das Lagerpersonal reagierten. Ein planmäßig aufgebautes Spitzelsystem, in dem gegenseitige Denunziationen oft durch das Versprechen einer beschleunigten Heimkehr gefördert wurden, vergiftete das Klima zusätzlich.
Folgerichtig trat auch das offizielle Ziel der möglichst lückenlosen Erfassung und Überprüfung der Repatrianten in den Hintergrund, da sie, unter dem Generalverdacht der Kollaboration mit den Deutschen und, soweit sie aus den westlichen Besatzungszonen kamen, der Sympathie mit dem Klassenfeind standen, bestenfalls noch als disponibles Arbeitskräftepotenzial klassifiziert wurden. Viele wurden kurzerhand von der Roten Armee als Haus- und Küchenpersonal oder zum Einsatz bei Demontagen in der sowjetischen Besatzungszone herangezogen, andere gerieten nach der Filtration wegen politischer Unzuverlässigkeit in Arbeitsbataillone - eine traumatische Erfahrung für die „Befreiten“.
Denen, die die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimatorte erhielten, erging es oft nicht viel besser: Die über sie angelegten Akten reisten ihnen voraus und vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an standen sie unter der Beobachtung der örtlichen NKVD-Stellen. Ihre Angaben wurden mittels wiederholter Verhöre und Fragebögen nachgeprüft. Wer durch das Filtrationssystem geschlüpft war, wurde nun nachträglich durch die Geheimdienstmühlen des totalitären Staates gedreht, wobei man vor psychischem Terror und der Androhung von Gewalt nicht zurückschreckte. Die Verschärfung des Kalten Krieges führte noch 1946/47 zu einer Verhaftungswelle von ca. 150.000 Repatrianten, denen Westkontakte bzw. -propaganda zur Last gelegt wurden (S. 519).
Mit den Quellen und der neueren Forschungsliteratur resümiert die Vf.in den menschenverachtenden Umgang des stalinistischen Staates mit seinen Untertanen nicht als Ausdruck durch die Fakten geschaffener Schwierigkeiten, sondern ideologisch vorbestimmten, bewussten Herrschaftsakt: „Die Art der Vernachlässigung war [...] 'von der Staats- und Parteiführung der Sowjetunion intendiert und stellte im Kern eine ungesetzliche Repression von Millionen von Sowjetbürgern dar'“ (S. 483, Statement der russischen Regierung von 1996). Oder anders ausgedrückt: Die Repatrianten hatten, sobald sie wieder im sowjetischen Machtbereich waren, keine Priorität mehr. Mit der Lösung ihrer persönlichen Probleme, in erster Linie dem Wiederaufbau ihrer Existenz in einem vom Krieg verwüsteten Land, und der weit über die Stalin-Ära hinaus wirkenden Diskriminierung durch ihre Landsleute ließ man sie allein. Erst ein Ukaz des Russischen Staatspräsidenten vom 24.01.1995 rehabilitierte diese Personengruppe formal und nahm 50 Jahre nach Kriegsende entsprechend den historischen Tatsachen den Generalverdacht des Vaterlandsverrats von ihr. Welche Auswirkungen dieses bürokratische Kainsmal zuvor im Einzelfall auf die Schicksale der Heimkehrer gehabt hatte, belegt im Buch eindrucksvoll ein Block mit Kurzbiografien von Kriegsgefangenen, Zwangs- und Sklavenarbeitern, als dessen Grundlage 28 Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Insassen des KZ Bergen-Belsen dienten, die im Jahre 1997 geführt werden konnten (S. 533 - 543).
Die späte Rehabilitierung der Opfer als Ursache und Folge der Nachkriegsgeschichte wirft zwangsläufig die Frage nach der Entwicklung der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas auf, der sich die Vf.in auch stellt: In der UdSSR bzw. Russland war es bis 1989 schlichtweg ein Tabu. Westliche Forschungen litten unter der Unerreichbarkeit der sowjetischen Quellen und der nach wie vor gegebenen ideologischen Belastung durch die Sichtweise des Kalten Krieges, die z.B. bei der Bewertung des Umgangs mit den für Wehrmacht und Waffen-SS angeworbenen Antibolschewisten bis heute auch vor offenem Geschichtsrevisionismus nicht Halt macht. Die Vf.in plädiert für ein differenziertes Urteil und führt als Argument dafür überzeugend an, dass Selbstzeugnisse und amtliche Erhebungen eine pauschale Verdammung der Betroffenen als skrupellose Opportunisten oder mordlüsterne Desperados verbieten, da viele von ihnen Opfer des stalinistischen Terrors gegen oppositionelle Gruppen oder ethnische Minderheiten vor und während des Krieges geworden waren. Gleichzeitig wehrt sie sich aber gegen eine durch einseitige oder unkritische Quellenauswahl verzerrte Darstellung der Repatriierung einschließlich ihrer Vorgeschichte und Folgewirkungen, insbesondere in den Arbeiten des russischen Autors Pavel Polian (im Buch auch Poljan geschrieben, z.B. „Deportiert nach Hause“ 2001).
Selbst kommt die Vf.in im Schlusskapitel ihrer Dissertation (S. 551 - 557) zu dem Fazit, dass der Verlauf der Rückführung der Sowjetbürger aus dem Westen vor allem Ausdruck des Entfremdungsprozesses zwischen den ehemaligen Verbündeten war. Obwohl der Austausch schon im Sommer 1945, also deutlich vor dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges, im wesentlichen abgeschlossen war, glaubte die Staats- und Militärführung das Thema immer wieder zu paranoiden Rundumschlägen gerade gegen die Amerikaner nutzen zu müssen, deren kontraproduktive Wirkung noch durch den Dilettantismus ihrer Vertreter vor Ort verstärkt wurde. Wie die Vf.in plausibel darlegt, stand hinter diesem irrationalen Verhalten die panische, letztlich völlig unbegründete Angst der Machthaber, dass durch den massenhaften Verbleib eigener Staatsbürger im Westen ein Schatten auf den triumphalen Sieg und das Image ihres Systems fallen könnte. Tatsächlich blieb die vergleichsweise geringe Zahl von ca. 330.000 Menschen, die die Sowjets eigentlich für sich reklamierten, als DPs im Westen zurück. Zu dem von der Vf.in genannten Grund der - neutral ausgedrückt - konsequenten Rückführung durch Amerikaner und Briten aus Rücksicht auf noch nicht repatriierte eigene Kriegsgefangene kann sich der Leser von „Der Weg zurück“ seine eigenen Gedanken darüber machen, welch große Rolle das schlichte Heimweh der mehrheitlich jungen Menschen bei ihrer folgenschweren Entscheidung gespielt haben muss. Weiter muss berücksichtigt werden, dass - anders als von den Sowjets permanent unterstellt - die Westalliierten gar kein Interesse am Verbleib von Millionen DPs im Westen haben konnten, da die Versorgung und Verwaltung des reichlich vorhandenen, nirgendwohin 'zurückschickbaren' menschlichen Strandgutes des Zweiten Weltkriegs - Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten, Evakuierte aus den zerbombten Städten und überlebende jüdische KZ-Häftlinge, um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen - nicht die Notwendigkeit aufkommen ließen, sich durch aktive Werbung unter Russen, Ukrainern usw. ein weiteres Problem an den Hals zu schaffen. Für das Vorhandensein dieser Einstellung spricht auch die im Buch dokumentierte Praxis, für die verbliebenen DPs aus dem sowjetischen Machtbereich so schnell wie möglich Aufnahmeländer zu finden, um so die Ressourcen im zerstörten Deutschland zu entlasten.
Absolut in der Formulierung korrektur- und danach diskussionswürdig erscheint die These, die die Vf.in, orientiert an angelsächsischer Literatur, auf S. 551 aufstellt: „Der damit [= Selbstverpflichtung der Westalliierten zur Übergabe sämtlicher Sowjetbürger] verbundene und zeitlich begrenzte Verzicht der Westalliierten auf eine breite Anwendung ihres Asylrechts leistete zudem einen Beitrag dazu, dass möglicherweise [sic] ein neues Minderheitenproblem in Europa entstand.“ Wie die Arbeit nachweist, war genau das Gegenteil der Fall, es entstand kein gravierendes neues Minderheitenproblem und wäre angesichts der Heimatliebe der betroffenen Menschen wohl auch dann nicht entstanden, wenn man ihnen die freie Wahl gelassen hätte. Doch selbst wenn eine deutlich größere Menge von ihnen im Westen geblieben wäre, hätte man das Ergebnis niemals mit der historisch gewachsenen ethnischen Gemengelage in Osteuropa vor 1939 vergleichen können, deren 'Bereinigung' in den rassistischen Vernichtungs- und Vertreibungsaktionen Nazideutschlands, den „Umsiedlungen“ ganzer Völkerschaften in der Sowjetunion unter dem Vorwand ihrer politischen Unzuverlässigkeit und der Vertreibung und Verschleppung der deutschen Minderheiten aus den neuen Satellitenstaaten der UdSSR Millionen von Todesopfern forderte. Man darf diese Staatsverbrechen nicht nachträglich - in Zeiten eines interkulturellen gesellschaftlichen Leitbildes! - wegen ihrer vermeintlich wünschenswerten Ergebnisse in ein günstigeres Licht rücken, um der westalliierten Repatriierungspolitik positive Aspekte abzugewinnen. Dies geht an den historischen Realitäten vorbei, ist argumentativ unnötig und wäre angesichts des dann stattgehabten Bruchs gleich zweier unveräußerlicher Menschenrechte, des der freien Wahl des Aufenthaltsortes und des Asylrechts, wie sie 1948, nur drei Jahre nach Kriegsende, in der Erklärung der Vereinten Nationen formuliert wurden, ein äußerst schwacher Trost.
Unumstritten und in Darstellung und Wertung der Kern der mehr als anerkennenswerten Leistung der Vf.in ist die stalinistische Filtrationspraxis mit ihren über Jahrzehnte weiterwirkenden Konsequenzen für das Individuum (S. 531): „Das Versäumnis der sowjetischen Staats- und Parteiführung, die Basis für einen raschen Wiederaufbau zu legen und damit Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrenden Menschen so schnell wie möglich in die Gesellschaft eingegliedert und somit tatkräftig an der Rückkehr des Landes zur Normalität mitwirken konnten, hatte erhebliche ökonomische Folgen und weist auf eine Prioritätensetzung im Kreml hin, der seinen Generalverdacht gegen die 'Repatrianten' und die 'Bevölkerung in den ehemals besetzten Gebieten' nicht hintanzustellen gedachte. Dem ideologisch motivierten Vorbehalt wurde Vorrang eingeräumt vor den notwendigen Weichenstellungen für die Zukunft.“
In einer hier erstmals gezogenen zahlenmäßigen Bilanz (S. 549) - für sich genommen ein großes Verdienst - ergibt sich die niederschmetternde Summe von 3,07 Millionen Menschen, die wegen der Zugehörigkeit zum Personenkreis der militärischen und zivilen Repatrianten Repressionsmaßnahmen der Staatsmacht unterworfen waren, also 57 % aller Heimkehrer (5,35 Millionen; beim hierfür angegebenen Stand vom 01.03.1945 dürfte es sich um einen Lapsus handeln, wahrscheinlicher ist 1946). Das Spektrum reichte von der Zwangsarbeit bis zum Einsatz in militärischen Strafbataillonen.

Erkenntniswert und Zugänglichkeit solch bahnbrechender Forschungsergebnisse werden leider durch Unzulänglichkeiten geschmälert, die mit Hilfe eines aufmerksamen Lektorats in einer dem Werk unbedingt zu wünschenden zweiten Auflage unschwer abzustellen wären. Hierzu zählen in erster Linie ein den gebotenen Informationsschatz erschließendes Register, ein differenzierterer Quellennachweis und ein Verzeichnis gerade der russischsprachigen Abkürzungen. Das Gedächtnis des Lesers entlasten helfen würde ein tabellarischer Anhang, der die je nach Quelle häufig massiv von einander abweichenden statistischen Angaben synoptisch zusammenfasst. Schließlich sollten im Interesse der Darstellung und ihrer Rezipienten die Fußnoten formal und inhaltlich einer kritischen Prüfung unterzogen und im Zweifelsfalle wesentlich reduziert werden. Und die eine oder andere Abbildung böte dem lesenden Auge eine optische Abwechslung. Doch schon in der vorliegenden Form führt künftig an „Der Weg zurück“ für den kein Weg vorbei, der sich ernsthaft mit Themen wie der DP-Problematik oder der sowjetischen Repatriierungspraxis beschäftigen will.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 27.06.2007

Titel: Peter Kuhn: Jüdischer Friedhof Georgensgmünd. (= Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege (Hg.): Die Kunstdenkmäler von Bayern. Neue Folge, Bd. 6). Deutscher Kunstverlag, München Berlin 2006. 728 S., zahlreiche Abb., 4 Pläne, ISBN 3-422-06559-8.




Der durch Inhalt und Umfang beeindruckende, mit Abbildungen, Karten und Plänen reichlich versehene Quartband ist ein würdiger Abschluss der fünfzehnjährigen Forschungen des Judaisten Peter Kuhn (Philosophisch-theologische Hochschule der Salesianer in Benediktbeuern) und seiner Mitautorinnen und -autoren. Die in ihrem Rahmen vor Ort, in Bibliotheken und Archiven in Deutschland, Israel und den USA sowie durch Befragung jüdischer und nichtjüdischer Zeitzeugen akribisch zusammengetragenen Informationen schaffen ein Gesamtbild des fränkischen Landjudentums, das weit über die nach dem bescheidenen Titel zu erwartende Inventarisation der Grabsteine hinausgeht.
Dennoch bildet der Katalogteil mit seinen 1762 inhaltlich und formal dokumentierten Grabmälern (davon 600 im Bild) naturgemäß den Schwerpunkt des Buches (S. 373 - 680). Er enthält für jeden Stein die hebräische Inschrift (soweit wegen der fortschreitenden Verwitterung noch lesbar), die Wiedergabe aller relevanten Informationen zur Person des / der Toten und ergänzt diese Angaben um eine kunsthistorische Beschreibung und die jeweilige Gesteinsorte sowie ggf. weitere vorhandene (archivische) Quellen.
Um dieses „steinerne Archiv“ hinreichend zu erschließen, bedurfte es des Zusammenwirkens von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen (Historiker, Volkskundler, Geologen) unter der Leitung eines profunden Kenners der hebräischen Sprache und jüdischen Religion. Für die Erforschung der regionalen jüdischen Geschichte wurde so zunächst ein biografisches Nachschlagewerk geschaffen, dessen Nachweise bis ins Jahr 1594 zurückreichen, der Datierung des ältesten erhaltenen Grabmals auf dem Georgensgmündener Friedhof, dessen Gelände wahrscheinlich 1581 für Bestattungszwecke erworben wurde und auf dem 1948 die letzte Beisetzung stattfand. Der Einzugsbereich des Verbandsfriedhofes dehnte sich im 18. Jahrhundert bis nach Windsbach, Schwabach, Thalmässing (Fürstentum Brandenburg-Ansbach) und Hilpoltstein (Herzogtum Pfalz-Neuburg) aus und umfasste somit zentrale Orte des ländlichen fränkischen Judentums, dessen Nachkommen im 19. Jahrhundert die Gemeinden in den durch die Industrialisierung prosperierenden bayerischen Großstädten anwachsen ließen. Speziell für Nürnberg blieb der Bezug zur Herkunftsregion zahlreicher von dort zugewanderter jüdischer Familien bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen, da sich hiesige Anhänger der Orthodoxie weiterhin in Georgensgmünd bestatten ließen, etwa der Mitbegründer des Religionsvereins Adas Israel, Salomon Ansbacher (1842 - 1911).
Der Katalogisierung der Gräber und ihrer Inschriften vorangestellt sind Kapitel, die neben Kontextinformationen wie der Entwicklung der in Georgensgmünd bestattenden Gemeinden und der Friedhofsgeschichte - einschließlich der Schändungen 1930 und 2000/2001 - (jeweils vom Vf.) oder einer stilistischen Analyse der Grabsteine (Dagmar Dietrich) erstmals quellenorientierte und nach wissenschaftlichen Standards gearbeitete Darstellungen übergreifender Aspekte der regionalen jüdischen Geschichte und Kultur bieten. Thematisiert werden u.a. die Bestattungsriten der fränkischen Landjuden, die Entwicklung, Sprache und das Menschenbild der Grabinschriften (jeweils vom Vf.) und die „Judenwege“ für Leichenzüge und Händler (Vf. und Barbara Rösch), deren variierende Bezeichnungen sich vielfach noch in heutigen Flurnamen erhalten haben. Adäquat erschlossen wird dieser reiche Wissensfundus durch ein 27-seitiges, differenziertes Sach-, Personen- und Ortsregister. Das Abkürzungsverzeichnis kann als Quellennachweis und aktuelle Bibliographie dienen.
Kuhns Werk ist eine am Beispiel der Verbandsgemeinden des Friedhofs Georgensgmünd festgemachte jüdische Kulturgeschichte, die künftig auch für die Forschung in anderen Regionen mit ähnlichen Strukturen herangezogen werden muss. So wünschenswert es wäre, derart grundlegende Arbeiten z.B. auch für Baiersdorf, Schopfloch oder Bechhofen zu besitzen, so unwahrscheinlich ist es, dass sich jemand mit vergleichbarer Konsequenz und Zähigkeit einer solchen Aufgabe annimmt.

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Links und Adressen zur Geschichte der Juden in Bayern

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 26.06.2007

Titel: Reinhard Weber: Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933. Oldenbourg, München 2006. 332 S., zahlreiche Abb., ISBN 978-3-486-58060-0.




Das Herzstück von Webers Werk bilden die 460 akribisch recherchierten Einzelbiografien bayerischer Anwälte, die nach NS-Definition als Juden galten und deshalb seit 1933 mehr oder weniger in den Sog der rassistischen Vernichtungspolitik gerieten. Gegliedert nach den Oberlandesgerichtsbezirken Bamberg, München, Nürnberg (139 Biografien) und Zweibrücken in der Pfalz erhält der Leser vor allem durch die Auswertung der Entschädigungsakten auf Bundes- und Landesebene äußerst aufschlussreiche Einblicke in die Lebensläufe einer Berufsgruppe, deren Anteil an den Erwerbstätigen innerhalb der jüdischen Minderheit deutlich größer war als in der Mehrheitsbevölkerung, da ihre Mitglieder wegen des Antisemitismus immer überwiegend zur wirtschaftlichen Selbständigkeit gezwungen waren. Dabei ermöglichen der landesweite Rahmen der Darstellung und das Personenregister die Herstellung biografischer und beruflicher Zusammenhänge, die selbst Experten der regionalen jüdischen Geschichte oft unbekannt sein dürften, konkret etwa das Wirken in Nürnberg geborener Juristen, z.B. Hans Taub (1880 - 1957), der als Anwalt in München praktizierte und nach der Emigration in Schweden Universitätsdozent für Literaturwissenschaft wurde (S. 262 f.).
Den Lebensläufen vorangestellt ist eine umfassende und kenntnisreiche Schilderung der schrittweisen Entrechtung der „jüdischen“ Anwälte - unter ihnen Katholiken, Protestanten, Konfessionslose und „Mischlinge“ - in der Nazizeit, die den traditionellen Antisemitismus lange vor der „Machtergreifung“ nicht ausspart. Aus heutiger Sicht fast schon komisch wirkt das Eigentor, das die NS-Juristen mit der Bestimmung schossen, dass neben den sog. „Altanwälten“ (Zulassung bis 1914) nur noch ausgewiesene Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs praktizieren durften. Ihr trotz strengster Kriterien unerwartet hoher Anteil verhinderte faktisch bis Ende 1938 das eigentlich geplante Berufsverbot für die meisten der jüdischen Anwälte. Diffamierungen und Boykott brachten aber für sie existenzgefährdende finanzielle Einbußen mit sich.
Anschaulich illustriert werden Entrechtungs- und Verdrängungsmaßnahmen und ihre Konsequenzen anhand von Einzelschicksalen, wobei der Vf. bemüht ist, die Beispiele entgegen sonstiger landesgeschichtlicher Übung nicht nur aus dem Münchner Raum zu schöpfen, soweit dies die schwierige Quellenlage zulässt. So beginnt seine Darstellung mit dem Fall Walter Berlin aus Nürnberg, einem profilierten Anwalt und Antifaschisten aus einer fränkischen Juristendynastie (S. 5 ff.) und geht ausführlich auf die bemerkenswerte Karriere der Nürnbergerin Edith Schulhöfer ein (S. 79).
Einen wichtigen Beitrag zur historischen Wahrheit leistet der Ausblick auf die Behandlung der Überlebenden und Rückkehrer durch die deutschen Behörden und Rechtsanwaltskammern nach 1945. Der Vf. konstatiert hierzu unmissverständlich (S. 202): „Es liegen [...] zahlreiche Belege für die Taktik der Kammern vor, Rückkehrwillige durch formalistische Anwendung der Anwaltsordnung abzuschrecken.“
Insgesamt ist „Das Schicksal der jüdischen Rechtsanwälte in Bayern nach 1933“ eines der ganz wenigen Bücher, das seinem im Titel erhobenen gesamtbayerischen Anspruch im Bereich der jüdischen Geschichte gerecht wird und deshalb künftig zur Standardliteratur zu zählen. Dem Vf. ist für seine Grundlagenarbeit als Historiker und Archivar ebenso zu danken wie dem Bayerischen Justizministerium und den bayerischen und pfälzischen Rechtsanwaltskammern, die die materiellen Voraussetzungen für dieses längst überfällige Projekt schufen. Wünschenswert wäre eine Fortführung des mit ihm eingeschlagenen Weges, etwa für die Juristen im bayerischen Staatsdienst oder die große und gesellschaftlich bedeutende Gruppe der jüdischen Mediziner.

Links:

Das Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte in Bayern im Dezember 1938

Jüdische Gewerbetreibende, Ärzte und Rechtsanwälte in Nürnberg 1930

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 11.06.2007

Titel: Franziska Knöpfle: Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg. Nürnberg 2007 (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte Bd. 64).

Knöpfles Regensburger Dissertation schildert die Aufbruchszeit unter dem SPD-Kulturreferenten Hermann Glaser (1964 bis 1990). Vieles davon ist schon Geschichte, andere Weichenstellungen wirken bis heute fort. Ihr Gegenstand, verknappt auf das Schlagwort der gesellschaftlich wirksamen „Soziokultur“, hat seinen Reiz in dieser fernen Nähe, der jedoch teilweise dadurch verschenkt wird, indem die Autorin darauf verzichtet, die von ihr mit den noch lebenden Akteuren geführten Gespräche - für die sie ihnen, in erster Linie natürlich Glaser selbst, im Vorwort ausdrücklich dankt -, als zitierte Quellen zu benützen. Was auch immer der Grund hierfür gewesen sein mag: Die Wirkung der Persönlichkeiten, besonders auf der kommunalpolitischen Ebene von entscheidender Bedeutung, und die hier noch rekonstruierbar gewesene Arbeitsteilung zwischen dem Innovator und Intellektuellen Glaser und den Politikpraktikern im Rathaus, die seine Ideen in Mehrheiten ummünzten, bleiben in der Darstellung unscharf.
Wie wichtig aber gerade solche Faktoren damals gewesen sein müssen, zeigt - neben der ausführlichen Schilderung der Entstehungsgeschichte des KOMM, die immer mit Glasers Namen verbunden bleiben wird - das Beispiel der Veranstaltungen „Kybernetikon“ I und II: Für den brutal verkopften Entwurf einer nach kybernetischen Regeln durchorganisierten Publikumsveranstaltung zum Thema Fernsehen erhielt der Kulturreferent vom Stadtrat die stattliche Summe von 100.000 DM. Das erste „Kybernetikon“ im Künstlerhaus 1972 endete fast mit einem Fiasko und seine Besucher(innen) sprachen sich mehrheitlich gegen eine Fortsetzung aus. Daraufhin wurden Glaser für eine - vom theoretischen Überbau her wesentlich entlastete - Nachfolgeveranstaltung 120.000 DM bewilligt. Diese hatte 1974 fast 10.000 Besucher(innen), war somit ein Publikumserfolg - und wurde nicht weitergeführt. Was müssen das für Zeiten gewesen sein, in denen man so experimentieren und kapriziös sein durfte?
Natürlich war Glasers Kulturbegriff im Grunde doch ein zutiefst bürgerlicher. Mit seinem Bildungsanspruch und -optimismus konnte er seine Herkunft aus der Geisteswelt des humanistischen Schulwesens nicht verleugnen. Im Hinblick auf unsere so desillusionierte (und desillusionierende) heutige Unkultur, die sich gerne als Produkt abgeklärten medialen und künstlerischen Profitums verkauft, um ihre Hohlheit zu bemänteln, ist aber schon der aufklärerische Ansatz der 1960er und frühen 1970er Jahre erfrischend, selbst wenn vieles professoral und ideologisch überfrachtet wirkt. Die daraus erwachsenen Nürnberger Projekte, ihre Grundlagen und ihren nicht immer ruhmreichen Verlauf aus sympathisierender Distanz fakten- und erkenntnisreich darzustellen, ist das Verdienst dieser Arbeit, wobei stets eine gewisse Ehrfurcht vor dem wandelnden Kulturdenkmal Hermann Glaser spürbar bleibt. Dem historisch vorgeschädigten Leser fällt dabei auf, dass die Aufarbeitung des lokalen Nationalsozialismus nie ein integraler Bestandteil der „Soziokultur“ war. Initiativen einzelner Dienststellen oder Personen wie Arnd Müllers 1968 erschienene „Geschichte der Juden in Nürnberg 1146 - 1945“ oder die Anfänge der aktiven Informationstätigkeit auf dem Reichsparteitagsgelände in den 1980er Jahren wurden seitens des Kulturreferats eher zugelassen als initiiert oder vorangetrieben (und werden dementsprechend von der Autorin kaum gestreift). Dies erscheint umso verwunderlicher, als gerade Glaser mit Vehemenz die Notwendigkeit einer gesellschaftlich wirksamen Graswurzel-Kultur aus dem Erlebnis der NS-Zeit ableitete, ganz persönlich etwa aus seiner Augenzeugenschaft der „Reichskristallnacht“, als er vom Elternhaus aus die Verwüstungen der Nazihorden an den Hofseiten der großbürgerlichen jüdischen Wohnungen in der parallel verlaufenden Hastverstraße beobachten konnte. War diese Generation zu einer solchen Auseinandersetzung noch nicht bereit oder wirkte hier der chronische Drang, nicht zunächst seine Hausaufgaben zu machen und stattdessen schnell und sicher auf die „nationale Ebene“ auszugreifen, um sich die Frage nach den ganz konkreten Kontinuitäten zu ersparen?

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 03.06.2007

Titel: politikorange - extrem*. Magazin zum Projekt „Medien mit Mut“, hg. vom Jugendpresse Deutschland e.V. und von der Amadeo-Antonio-Stiftung. Ausgabe Frühjahr 2007.

 

(Abbildung aus dem Heft)

Dieses Heft ist so bunt wie das Leben - oder paradoxerweise so grau mit einem penetranten Braunstich, je weiter man in Doitschland gen Sonnenaufgang fährt. Tatsächlich sind es in erster Linie die authentischen Texte von Schülerinnen und Schülern aus den fünf nicht mehr ganz neuen, aber mental planetarisch weit entfernten Bundesländern und Berlin, die den Wessi-Leser fesseln. Sie sind bitterböse Notizen aus der Provinz, Berichte von einer neuen Ostfront, an der es Städte gibt, in denen sich Nichtkaukasier und Langhaarige nach 20 Uhr besser nicht auf der Straße sehen lassen sollten, weil dann der „Märkische Heimatschutz“ aufzieht (Emilie Plachy über ihre Heimatstadt Oranienburg - mit der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen) und deren Bewohner(innen) Reste von Normalität wie ungestörtes sommerliches Eisessen bemerkenswert finden - allerdings nur bis sich ihnen die Möglichkeit bietet, dieses dumpfe Milieu zu verlassen. Im ländlichen Sachsen-Anhalt hat man mit Diebstahl, Vandalismus und Morddrohungen zu rechnen, wenn man ein kirchliches Jugendzentrum betreibt und sich für Toleranz und Aufklärung einsetzt (Doreen Karger, „Auf dem Dorfe“). Endgültig den Magen herum dreht es einem bei der Lektüre des Interviews mit Gabriel Landgraf, einem ausgestiegenen Berliner Neonazi, in dem er die „Szene“ und die in ihr wirksamen Mechanismen aus Männerstolz, Kameraderie und krimineller Konspiration beschreibt.
Gemeingefährliche Dummbeutel gibt es freilich auch diesseits der ehemaligen Zonengrenze, aber nicht so niederschmetternd flächendeckend wie in den „blühenden Landschaften“ des Ostens. Da es ihre Lebenswirklichkeit ist, stellen sich die jungen Autor(inn)en ganz unakademisch die Frage, was da in den letzten 17 Jahren schiefgelaufen ist, denn langsam taugen unterschiedliche Sozialisierung und wirtschaftliche Dauerkrise nicht mehr als Ausreden für verfehlte Politik und ineffizientes Bildungswesen. Traurig stimmt die in ihren Beiträgen durchschimmernde Tendenz zur Resignation und zum Rückzug ins Private bei jungen Leuten, die zu den Engagierten und Artikulierten ihrer Generation zählen. Was hilft’s, seine deutsche Geschichte zu kennen und aus ihr die einzig richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn man darüber mit einer nicht zu vernachlässigenden Zahl der eigenen Altersgenossen und wohl auch den Erwachsenen nicht einmal diskutieren kann? Susanne Bergmann (Berlin) stellt in ihrem Artikel „Kollektive Idiotie, oder: Happy slapping for everyone“ die richtige, Ost und West doch wieder vereinende Preisfrage: „Warum ist unsere Gesellschaft so verdummt?“ (Versuch einer Antwort: Weil sich’s dumm leichter leben bzw. konsumieren lässt und Dumme einfacher zu regieren und zu manipulieren sind - und keine 'dummen' Fragen stellen.)
Wut tut gut, wenn sie so pointiert formuliert ist. Und Mut machen die in politikorange beschriebenen lokalen Jugendinitiativen wie ABC im thüringischen Pößneck oder in Wunsiedel in Oberfranken, die sich bundesweit miteinander vernetzen, um durch die Beispielwirkung interner demokratischer Strukturen und gezielte Projektarbeit den braunen Sumpf auszutrocknen.

Ein Hoffnungsschimmer ist auch die Existenz von politikorange selbst, das jährlich erscheinen soll, „sofern sich Finanziers finden“. Wenn es den Verantwortlichen gelingt, den richtigen Mittelweg zwischen redaktioneller Bearbeitung der manchmal etwas sperrig geratenen Texte und inhaltlich ungefilterter Wiedergabe der Erfahrungen und Gedanken der Jugendlichen zu finden, kann sich das Heft zur Pflichtlektüre für alle entwickeln, die wissen wollen, was in diesem Land außerhalb von Unterschichtenfernsehen und selbstgefälliger Bildungsbürgerlichkeit nach Einbruch der Dunkelheit wirklich abgeht.

Links:

Jugendinitiative ABC Pößneck

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 14.05.2007

Titel: teribloG Rezensionen

Zusammen mit dem gemeinsamen Blog von testimon und rijo starten wir eine eigene Rubrik für Rezensionen, die die bereits bei rijo 1.0 vorhandenen Besprechungen (s.u.) fortsetzt.
Wer ein Buch herausgebracht hat oder eine Website betreibt, die thematisch in das Konzept von testimon und rijo passen, und sein Werk an dieser Stelle kritisch gewürdigt sehen möchte, kann unter info[at]testimon.de mit der Redaktion Kontakt aufnehmen.

Link:

teribloG

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 26.09.2015

Titel: Anthony M. Platt, Cecilia E. O'Leary: Bloodlines. Recovering Hitler’s Nuremberg Laws. From Patton’s Trophy To Public Memorial. Paradigm Publishers, Boulder (CO) 2006. 268 S., 24 Abb., ISBN 1-59451-140-3.




Am 26.06.1999 gab die Henry E. Huntington Library and Art Gallery im kalifornischen San Marino bekannt, dass sie die in ihrem Besitz befindlichen Fassungen der Nürnberger Gesetze (Reichsflaggengesetz, Reichsbürgergesetz, Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre) vom 15.09.1935 dem jüdischen Skirball Cultural Center in Los Angeles für seine Dauerausstellung ausleiht, vier unscheinbare typoskripte Blätter mit den Unterschriften von Hitler, Innenminister Frick, Kriegsminister von Blomberg, Justizminister Gürtner und Hitler-Stellvertreter Hess, an denen quellenkritisch nur bemerkenswert ist, dass in § 2 des Blutschutzgesetzes das Wort Geschlechtsverkehr handschriftlich gestrichen und durch Verkehr ersetzt wurde, deren materieller Wert allerdings auf rund 3 Millionen US-Dollar geschätzt wird.

Die Mitteilung über die Ausleihe dieser Dokumente, die die New York Times in ihrer Berichterstattung zu den entsetzlichsten des 20. Jahrhunderts zählten, erhielt durch die Tatsache einige Brisanz, dass die Huntington Library damit eingestehen musste, bereits seit 54 Jahren über sie zu verfügen ohne die Öffentlichkeit davon unterrichtet zu haben. Angesichts der Bedeutung dieser von Henry E. Huntington (1850 - 1927), einem Eisenbahn-Tycoon und Immobilienmagnaten, gegründeten Institution, die seit ihrer Eröffnung 1925 jährlich ca. eine halbe Million Besucher anzieht, die die Buchbestände, die Sammlung englischer und französischer Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts sowie die weitläufigen Parkanlagen nutzen, führte ihre Informationspolitik zu erheblichen Irritationen bei Medien und Fachpublikum.

Zum Zeitpunkt der Enthüllung hatten Anthony M. Platt, Professor für Sozialarbeit, und Cecilia E. O'Leary, Professorin für amerikanische Geschichte, beide von der California State University, ein Stipendium der Huntington Library, um an Projekten zur Regionalgeschichte zu arbeiten. Aus dieser Koinzidenz entstand das hier vorzustellende Buch mit dem Titel Bloodlines, ein vielschichtiges Wortspiel, da der Begriff in seiner Grundbedeutung der direkten Abstammung die in der Geschichte der Nürnberger Gesetze miteinander verwobenen Biografien der Akteure andeutet - und die blutigen Folgen ihrer Inhalte. Als kritische Wissenschaftler gaben sich Platt und O'Leary nicht mit der offiziellen Darstellung zufrieden und starteten ihre eigenen Recherchen über das Schicksal der Papiere und ihren im Untertitel zum Ausdruck kommenden Bedeutungswandel vom NS-Gesetzestext als eine der scheinlegalen Grundlagen des Holocaust über die persönliche Trophäe eines US-Generals zur (ungeliebten) Zimelie einer Bibliothek, die sich sonst der Dokumentation der intellektuellen Entwicklung der englischsprachigen Völker verschrieben hat. Ihre Forschungsergebnisse wurden ein wichtiger Beitrag zur Kontroverse über das langjährige Schweigen und den folgenden Umgang mit den ominösen Schriftstücken. Zugleich gelang es den Autoren, erstmals anhand von Quellen den Weg der Gesetze von der Reichstagssitzung im Nürnberger Kulturvereinsbau bis an die amerikanische Westküste lückenlos zu rekonstruieren.

Die offenkundige Erklärungsnot der Huntington Library resultierte ursächlich aus den schriftlich fixierten, aber völlig inkonsistenten Angaben, die General George S. Patton (1885 - 1945) anlässlich ihrer Deponierung am 11.06.1945 zur Herkunft der Dokumente machte: Sie seien um den 14.03.1945 herum bei der Eroberung Nürnbergs von Soldaten der 90. Infanteriedivision entdeckt und ihm als Oberbefehlshaber der III. Armee von deren Kommandeur, General Van Fleet, etwa am 27.05.1945 überreicht worden. Daraus leitete Patton ab: Somit handelt es sich um mein Eigentum. Der damals in seiner Heimat überaus populäre Kriegsheld überließ sie der Bibliothek zur vorläufigen Aufbewahrung, weil die Familien Patton und Huntington, die beide der elitären Schicht der südkalifornischen WASP (White Anglo-Saxon Protestants) angehörten, in enger Beziehungen zueinander standen.

Mit General Patton beanspruchte ein Mann die Nürnberger Gesetze als seine private Siegesbeute, der in den USA zwar ein militärischer Star war und sich 1945 beim Einmarsch in Deutschland medienwirksam beim Pinkeln in den Rhein hatte fotografieren lassen, der aber ebenso für seinen selbstherrlichen Führungsstil und politisch ausgesprochen inkorrekte Äußerungen berüchtigt war, die ihn immer wieder in Konflikt mit seinem Vorgesetzten, dem späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower, geraten ließen. Posthum veröffentlichte Ansichten des als KZ-Befreier gefeierten Sternegenerals über Juden und Farbige wie der folgende, aus seinem Tagebuch vom Oktober 1945 stammende, niederschmetternde Satz sind kein Einzelfall und gewähren einen Einblick in sein rassistisches Weltbild: Die jüdischen "Displaced Persons" [KZ-Überlebende] sind in ihrer Mehrheit eine subhumane Spezies, der es an allen kulturellen oder sozialen Errungenschaften unserer Zeit fehlt.

Platt und O'Leary kamen bei ihren Nachforschungen in Kontakt mit einem Zeitzeugen, der die von Patton kolportierte Geschichte der Entdeckung der Gesetze mit höchster Autorität widerlegen konnte: Martin Dannenberg leitete das dreiköpfige Team der 203. Abteilung des Spionageabwehrcorps (203d Detachment Counter-Intelligence Corps, kurz CIC), das sie 1945 in Eichstätt sichergestellt hatte. Ironischerweise gehörte dem CIC-Kommando neben dem amerikanischen Juden Dannenberg auch Frank Perls an, ein Berliner Emigrant, dessen jüdische Eltern sich bei ihrer Heirat hatten taufen lassen, der aber nach NS-Definition als Volljude galt, weshalb er und seine Familie die mörderischen Konsequenzen der Rassengesetze selbst zu fürchten hatten. Die Männer dokumentierten ihren Fund - einen mehrfach versiegelten Umschlag, in dem sich auch einschlägige Korrespondenz befand und dem sie einen Bericht beifügten - fotografisch und leiteten ihn in der sicheren Erwartung weiter, dass er zu der beim Oberkommando der Alliierten in Paris eingerichteten Sammelstelle für Beweismaterial für den geplanten Kriegsverbrecherprozess gelangen würde: Am 28.04.1945 lieferte Martin Dannenberg das Konvolut beim Geheimdienstoffizier des III. Corps der von Patton befehligten III. Armee in Beilngries ab, der ihn wiederum an Pattons Hauptquartier in Erlangen weiterreichte. Die Presse in den USA, England und Frankreich berichtete zwar über die Entdeckung, doch verlor sich ab diesem Zeitpunkt die Spur der Nürnberger Gesetze bis 1999.

Auch wie sie nach Eichstätt gelangt waren, können die Autoren schlüssig nachzeichnen: Im November 1935 wurden sie dem Nürnberger Oberbürgermeister Willy Liebel von Hitlers Reichskanzlei quasi als Ehrengaben leihweise überlassen, der sie in einem Safe in seinem Büro aufbewahrte. Wohl wegen der wachsenden Gefahr von Luftangriffen auf die Stadt der Reichsparteitage vertraute Liebel die Unterlagen 1943 dem Höheren SS- und Polizeiführer Benno Martin an, der den Leiter der Nürnberger Zweigstelle der Reichsbank mit ihrer sicheren Verwahrung beauftragte. Dieser lagerte sie am 09.10.1943 außerhalb der Gefahrenzone im Tresorraum der Filiale der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank in Eichstätt ein. Er war es auch, der - aus seinem Versteck in einer nahe gelegenen Scheune geholt - den US-Geheimdienst am 27.04.1945 in den Keller der Bank führte.

Durch Pattons plötzlichen Tod im Dezember 1945 bei einem Autounfall in Deutschland geriet die Huntington Library in ein mehrfaches Dilemma: Der General hatte sich vorbehalten, nach seiner endgültigen Rückkehr aus Europa über die von ihm dort eingelagerten Papiere zu entscheiden; bis dahin sollte die Öffentlichkeit nichts von ihnen erfahren. Gleichzeitig musste den Verantwortlichen klar sein, dass das von ihm behauptete Eigentum an den Nürnberger Gesetzen juristisch auf wackligen Füßen stand ohne zu ihrer Abgabe an eine amerikanische oder später deutsche Stelle berechtigt zu sein. Angesichts dieser Probleme beschloss man für die folgenden 54 Jahre, das gesamte Konvolut schlicht wegzusperren. Dieser Entschluss fiel umso leichter, da es keinerlei offizielle Aufzeichnungen über den Verbleib der Gesetze gab, nachdem sie das CIC dem Oberkommando der III. Armee übergeben hatte. Allerdings kam man später auch nicht dem Wunsch der Familie Patton nach, alle vom General der Huntington Library überlassenen Unterlagen an die Kongressbibliothek in Washington abzugeben, wo sich mittlerweile sein schriftlicher Nachlass befand.

Der späte, mit der Leihe an das Skirball Center beabsichtigte Befreiungsschlag musste angesichts so vieler Ungereimtheiten zwangsläufig scheitern, sodass Platt und O'Leary am Ende ihres Buches die Frage aufwerfen, inwieweit die Art der Präsentation - die auf ihre Intervention hin mehrfach geändert wurde - den Nürnberger Gesetzen und dem spezifischen Ort - das multiethnische Kalifornien als ein Brennpunkt der Masseneinwanderungsproblematik aus Lateinamerika - gerecht wird, denn sie fanden heraus, dass es vor und während der NS-Zeit enge Kontakte zwischen deutschen und amerikanischen Eugenikern und deren Förderern gab, unter den Letztgenannten Spitzen der kalifornischen Gesellschaft, die wiederum führende Positionen in den Aufsichtsgremien der Huntington Library einnahmen. Deshalb legen der deutsche und der amerikanische Teil der Geschichte eine Darstellung in einem größeren Kontext von Vergangenheit und Gegenwart nahe.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Bloodlines auch in Deutschland eine weite Verbreitung zu wünschen ist, schon allein weil die akribisch recherchierten, komplexen Zusammenhänge lesbar und spannend beschrieben werden, Qualitäten, die in der hiesigen Forschungsliteratur nicht obligatorisch sind. Zugleich erfüllt das Buch alle wissenschaftlichen Standards, indem es neben den Einzelnachweisen einen umfangreichen Apparat mit Quellen- und Literaturverzeichnis, separaten Personen- und Sachindizes sowie einer Chronologie bietet. Es ist deshalb zu hoffen, dass sich ein deutscher Verlag finden wird, der dieses lesenswerte Werk in Übersetzung herausbringt.

Epilog: Im August 2010 entledigte sich die Huntington Library ihres ungeliebten Erbes, indem sie die Nürnberger Gesetze den National Archives in Washington, D.C. zur dauernden Aufbewahrung überließ. Mit einer Verspätung von 65 Jahren waren sich die Verantwortlichen einig, dass diese Institution der geeignetste Ort dafür sei - wobei zahlreiche Beutedokumente nach ihrer Verfilmung in den USA bereits seit den 1960er Jahren an Deutschland zurückgegeben worden waren. Nach einer kurzen öffentlichen Präsentation der Originale aus dem Eichstätter Banktresor ruhen sie nun in einem Magazin des amerikanischen Nationalarchivs.

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 18.12.2010

Titel: transversal 2/2003. Zeitschrift für Jüdische Studien. Hg. vom Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz. ISSN 1 607-629X.

Auch im umfangreichen zweiten Heft seines vierten Jahrgangs deckt transversal thematisch und geographisch das ganze Spektrum jüdischer Geschichte und Kultur in Europa ab. Dabei ermöglicht die offene Konzeption die Aufnahme der Beiträge von Autoren unterschiedlicher Fachrichtungen, was die Lektüre besonders lohnend und anregend macht.

Nicht verschwiegen werden soll der in dieser Nummer von transversal enthaltene Text von Susanne Rieger Das Ende des Exils - Selbstverständnis und Perspektiven der deutsch-jüdischen Emigration heute (S. 104 - 117). Es handelt sich hierbei um eine Auswertung unserer im Dezember 2001 gestarteten Umfrage unter deutschsprachigen jüdischen Emigranten und ihren Familien zu Vergangenheit und Gegenwart. Weitere Gegenstände des Heftes sind:

Different Experiences of Modernization and the Rise of Antisemitism. Socio-Political Foundations of the numerus clausus (1920) and the 'Christian Course' in Post World War I Hungary by Victor Karady

Ein spielender Körper - "der Ostjude" im Theater von Shahar Galili

Hybridität als politisches und soziokulturelles Prinzip. Sefardische Wege im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts von Desanka Schwara

Formen der Verdrängung. Zur intellektuellen Marginalisierung des Holocaust in Deutschland nach 1945 von Nicolas Berg

"Rasse", Vererbung und "Jüdische Nervosität". Über Reichweite und Grenzen wissenschaftlicher Paradigmen im psychiatrischen Diskurs Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von Andrea Adams

Abgerundet wird der Band durch einen Rezensionsteil.

Kontakt: Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz
E-Mail: dhc.graz[at]uni-graz.at

Link:

transversal 1/2009

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 06.05.2007

Titel: Edgar Hubrich, Wilhelm Veeh: Die Judenmatrikel 1813 - 1861 für Mittelfranken. Bearb. von der Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V. und dem Staatsarchiv Nürnberg. Mit einer Einleitung von Gerhard Rechter. München-Nürnberg 2003 (= Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns: Digitale Medien Nr. 1 / Gesellschaft für Familienforschung in Franken e.V.: Digitalisierte Quellen Nr. 1). ISSN 1610-9430, ISBN 3-921635-73-X. Zu beziehen über die Gesellschaft für Familienforschung in Franken, Archivstraße 17, 90408 Nürnberg, E-Mail: gffcd[at]gf-franken.de


Die vorzustellende CD-ROM erschien im Juli 2003 und erschließt durch HTML-Indizes und eine interaktive Landkarte die 2042 in Originalgröße digitalisierten Textseiten (Grafikdateien im JPEG-Format) der Judenmatrikel des Rezatkreises bzw. des Kreises (Regierungsbezirks) Mittelfranken von 1813 (Judenedikt) bis 1861 (Ende des Matrikelzwangs) mit den Einträgen von ca. 4800 Personen. Die Indexseiten der Familiennamen und Orte, die Inhaltsübersicht der Einzelbände bzw. -einträge in der gegebenen Seitenfolge mit Kurztiteln sowie die Begleittexte stehen auf dem Datenträger auch in einer englischen Fassung zur Verfügung. Insbesondere bei der umfangreichen verwaltungsgeschichtlichen Einführung ist dies im Hinblick auf die Vermittlung von Grundlagenwissen an die große Schar der jüdischen Genealogen in den USA und Israel ein ausgesprochen sinnvolles Feature des Datenträgers. Zusätzlich werden auf ihm die zentralen Texte auch in einer PDF-Fassung zum Ausdruck angeboten.
Für die Handhabung ist es vorteilhaft, dass der Betrieb der CD keine Installation von Programmkomponenten auf dem PC voraussetzt. Dem pauschalen Hinweis auf das Ausreichen eines Windows-Betriebssystems kann allerdings nicht gefolgt werden, da Tests ergaben, dass erst ab den Versionen Win98 / WinNT bzw. den entsprechenden Browsergenerationen IE 4.0 / Netscape Communicator 4.08 ein stabiler und zügiger Ablauf gewährleistet ist. Ansonsten ist die Bildschirmoberfläche durch die Verwendung von Icons zweckmäßig und übersichtlich gestaltet, ihre Funktionsweise zusätzlich in einem HTML-Dokument erklärt. Die Lesbarkeit der Seiten in Originalgröße ist abhängig von der handschriftlichen Vorlage als gut zu bezeichnen. In der Zoomfunktion über 100% beginnt freilich sofort das „Auspixeln“ der Grafik, d.h. die durch das Komprimieren der Bilddaten bedingte Unschärfe wird sichtbar. Als letzter bedienungstechnischer Aspekt ist anzumerken, dass der Link im Namensregister auf eine Grafikdatei selbstredend nicht punktgenau zu dem Eintrag, sondern nur der betreffenden Seite führen kann, auf welcher dann ggf. bis zu der gesuchten Person gerollt werden muss.
An Detailinformation bietet das Speichermedium - die Lesefähigkeit der Kanzleischrift des 19. Jahrhunderts vorausgesetzt - den bisherigen Namen des Matrikelstelleninhabers, seinen 1813 ff. festgelegten neuen (amtlichen) Familiennamen, Geburtsort und -jahr, Familienstand und ausgeübten Beruf, alles geordnet nach Wohnorten innerhalb der mittelfränkischen Landgerichtssprengel. Beim Übergang der Matrikelnummer auf einen Nachrücker folgt dessen Beschrieb. Gerade im Falle Nürnbergs wird aber von diesem Formular abgewichen, was die hiesige Sonderentwicklung reflektiert: Nur der 1850 als erster jüdischer Bürger in bayerischer Zeit zugelassene Joseph Kohn wurde so registriert. Seinem Eintrag folgt eine konzepthafte Auflistung von 58 Inhabern des Bürgerrechts, die dieses zwischen 1850 und 1861 erworben haben. Die Flüchtigkeit der Zusammenstellung wird auch daraus ersichtlich, dass auf ihrer ersten Seite die Bemerkungs- bzw. Berufsspalte weggelassen wurde.
Die für den Rezatkreis als einzigem derartigen Verwaltungsbezirk im Königreich Bayern zusammengefasste Matrikel gibt den Stand vor der massiven Erosion der gerade hier zahlreichen jüdischen Landgemeinden in Richtung der größeren Städte wieder, wofür die Aufhebung des Matrikelzwanges die wichtigste Voraussetzung war. Aus der Sicht des heutigen Forschers war dieser diskriminierende Eingriff in das Leben der jüdischen Bayern freilich ein Glücksfall, da durch ihn Abstammung und räumliche Herkunft der Familienoberhäupter gerade am Übergang von den wechselnden Vater- und Sippennamen zu amtlich registrierten Nachnamen schriftlich fixiert wurden.
Wegen der Bedeutung der Quelle ist den Beteiligten für die Schaffung des durchdachten, technisch soliden und überaus nützlichen Werkzeugs für Familien- und Heimatforscher besonders zu danken. Hoffentlich wird der mit dieser CD eingeschlagene Weg in den anderen Staatsarchiven in Franken, Schwaben und der Oberpfalz fortgesetzt. Außerdem gibt es aus archivarischer Sicht prinzipiell keinen Grund, das Feld der digitalen Aufbereitung und Distribution so elementarer biographischer Daten kommerziellen Anbietern oder der Glaubensgemeinschaft der Mormonen zu überlassen. Erstere würden sicherlich für ihr Produkt mehr als 15 Euro verlangen und trotzdem ihre Käufer finden.

Link:

http://www.gf-franken.de/ (Gesellschaft für Familienforschung in Franken)

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 21.05.2007

Titel: Gisela Blume: Gedenke - Remember - Yizkor. Zum Gedenken an die von den Nazis ermordeten Fürther Juden 1933 - 1945. Hg. vom Komitee zum Gedenken der Fürther Shoah-Opfer, Fürth 1997, Selbstverlag Stadtarchiv Fürth, 482 Seiten u. zahlr. Ill.

Der Band erfüllt mit seinen Informationen zu 887 Fürther Holocaustopfern das Postulat, den letzten Triumph ihrer Verfolger, nach der physischen Vernichtung auch die Spuren ihrer Existenz auszulöschen, zu verhindern. Um bei der Realisierung eines solchen Vorhabens, das auch in vorliegendem Fall den Archiven und engagierten Forschern außerhalb des universitären Bereichs vorbehalten blieb, seine beiden Hauptaspekte, nämlich das Gedenken durch die Nachgeborenen sowie die Schaffung eines biographischen Nachschlagewerkes, hinreichend abdecken zu können, sind die Opferdefinition und das Formular der Einträge (im Fürther Gedenkbuch auf Deutsch und Hebräisch) von zentraler Bedeutung. Die Verantwortlichen in Fürth fassten den zu behandelnden Personenkreis vergleichsweise weit (gebürtige Fürther, sämtliche von hier Deportierte, Suizidopfer, nach Misshandlungen in Fürth Gestorbene, langjährige Einwohner unabhängig von ihrem Deportationsort und alle Juden unter 70 Jahren, die im zeitlichen Umfeld von „Kristallnacht“ und Deportationen starben). Ebenso breit angelegt ist das Raster der Angaben in den namensalphabetisch angeordneten Einträgen, die wenn möglich mit einem Portraitfoto versehen wurden: Es reicht von den essentiellen Angaben zur Person (Namen, Geburtsdatum und -ort) über die Eltern, Ehepartner und Wohnadressen bis hin zu Details der Deportation und des Todes, wobei letztere naturgemäß durch die Massenvernichtung nur in Ausnahmefällen konkret sein können. Die Rubrik „Lebenslauf“ wird häufig durch Angaben zu Kindern, verwandtschaftlichen Beziehungen und Gewerbebetrieben für die zusätzliche Vernetzung der biographischen Informationen genutzt. Hier stößt das Vorhaben der Individualisierung freilich wegen der lückenhaften Quellenlage an seine Grenzen. Nur da, wo auf das Wissen der Familien um das Schicksal ihrer Angehörigen zurückgegriffen werden konnte, rundet sich das Bild der einzelnen Existenz. Positiv anzumerken ist, dass an keiner Stelle versucht wird, diesen unverschuldeten Mangel durch Spekulation jenseits der Fakten zu kaschieren; widersprüchliche Aussagen der Quellen werden als solche benannt. Am Ende jedes Eintrags befindet sich ein Nachweis der für ihn verwendeten Unterlagen, der mittels Abkürzungen auf ein Verzeichnis verweist, das leider nicht konsequent durchgearbeitet ist, etwa in der fehlenden Trennung von Quellen und Literatur. Zum dreisprachig (Deutsch, Englisch, Hebräisch) gehaltenen Apparat gehören zudem eine Statistik der jüdischen Einwohner Fürths 1910 - 1944 (ohne Quellenangabe) sowie eine Liste der „Judenwohnungen“ in der Stadt und der Deportationen von hier. Wünschenswert zur tieferen Erschließung der von der Verfasserin gesammelten immensen Menge an Daten wären weitere Indizes, insbesondere der Mädchennamen und Geburtsorte, um dem Handbuchcharakter des Werkes besser gerecht zu werden. Dieses Desiderat könnte ebenso wie eine konsequentere Endredaktion zur Beseitigung der den Lesefluss störenden typographischen Eigenheiten eine Neuauflage erfüllen. Es ist dem Projekt zu wünschen, dass man den Beteiligten hierzu Gelegenheit gibt, denn erfahrungsgemäß erschließen sich nach der Veröffentlichung solcher Memorbücher oft neue Quellen, deren Inhalte in geeigneter Form eingearbeitet werden müssen.
Angemerkt sei noch, dass sich die Wirkung des Bandes nicht auf die Fürther Stadtgeschichtsforschung beschränkte. Es stand am Anfang einer Entwicklung, die dem mittelfränkischen Ballungsraum bis heute drei verlässliche biographische Grundlagenwerke über seine Holocaustopfer bescherte, da Nürnberg (Gerhard Jochem, Ulrike Kettner: Gedenkbuch für die Nürnberger Opfer der Schoa. Nürnberg 1998 u. Ergänzungsband 2002) und Erlangen (Ilse Sponsel: Gedenkbuch für die Opfer der Shoa in Erlangen. Hg. vom Bürgermeister- und Presseamt der Stadt Erlangen. Erlangen 2001) mit eigenen Publikationen nachzogen. Somit wirkte es stilbildend, da sich spätere Bearbeiter zwangsläufig kritisch mit seiner Methodik auseinandersetzen mussten. Das Ergebnis dieses Prozesses und der konkreten Zusammenarbeit im Städtedreieck ist ein jedermann zugänglicher Fundus an biographischen Daten, der in Bayern sonst nur punktuell verfügbar ist (z.B. Reiner Strätz: Biographisches Handbuch Würzburger Juden 1900-1945, Würzburg 1989, und Peter Körner: Biographisches Handbuch der Juden in Stadt und Altlandkreis Aschaffenburg, Aschaffenburg 1993).

Link:

Chronologie der jüdischen Gemeinde in Fürth bis 1945

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Autor: Gerhard Jochem

Datum: 06.05.2007

Titel: Ilse Sponsel: Gedenkbuch für die Erlanger Opfer der Shoa, 100 S. Erhältlich nur bei der Bürgerberatung im Rathaus.

Am 25. Januar 2001 stellte Frau Ilse Sponsel, langjährige ehrenamtliche Beauftragte der Stadt für die ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, im Rahmen einer öffentlichen Plenarsitzung des Stadtrats das "Gedenkbuch für die Erlanger Opfer der Shoa" vor. Ihr einhundert Seiten starkes Werk enthält neben Fotos der Ermordeten die akribisch recherchierten Lebensläufe von 76 Erlanger Holocaustopfern, den jüdischen Insassen der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen, die im Rahmen der "Euthanasie" ermordet wurden, sowie einen Abriss der jüdischen Geschichte Erlangens von 1364 bis heute. Somit verfügen nun alle drei Großstädte im Ballungsraum über Gedenkbücher für die ermordeten Mitglieder ihrer jüdischen Gemeinden (Fürth seit 1997, Nürnberg Band 1 1998, Ergänzungsband 2002).

Link:

http://www.erlangen.de (Website der Stadt Erlangen)

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Autorin: Susanne Rieger

Datum: 04.05.2007

Titel: Wolfram Selig: Leben unterm Rassenwahn. Vom Antisemitismus in der "Hauptstadt der Bewegung", 394 Seiten, Berlin: Metropol 2001. ISBN 3-932482-69-7.




Inhalt
Der Autor Wolfram Selig, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stadtarchivs München, beschreibt in vorliegendem Buch facettenreich die alltäglichen Ausformungen der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis auf der Mikroebene einzelner Biographien, Familien- und Firmengeschichten in der bayerischen Metropole. Schon der Untertitel des Buches legt dabei nahe, dass die Verwirklichung derjenigen Maßnahmen, die die Existenzgrundlage der jüdischen Münchnerinnen und Münchner zerstörten, ihre Auswanderung erzwangen oder ihren Weg in die Vernichtungslager vorbestimmten, bei den daran beteiligten Behörden und Individuen in antisemitischen Traditionen wurzelte, die weit vor den Wendepunkt der "Reichskristallnacht" zurückreichten.
Das erste Kapitel ist ganz der Geschichte der Familie Schachno gewidmet, die 1899 nach München gezogen war. Anhand der Biographien ihrer Mitglieder zeigt der Autor die Schicksale dieser angesehenen jüdischen Familie während der NS-Zeit auf.
In den weiteren fünf Kapiteln des Buches wird in einer Vielzahl von Einzelfällen aus verschiedenen Milieus nachgezeichnet, wie insbesondere die städtischen Behörden in das Leben der Juden eingriffen. Durch die unterschiedliche thematische Schwerpunktsetzung (Kapitel II: Der ganz alltägliche Antisemitismus: Terror, Schikanen, Denunziationen; Kapitel III: Mit Juden verheiratet: "Mischehe" - Verhängnis und Schutz; Kapitel IV: Halbjude, Halbarier, Mischling? Im Schatten der Nürnberger Gesetze; Kapitel V: Christliche Juden: Zwischen allen Stühlen; Kapitel VI: "Arier" als Opfer des Rassenwahns) werden den Leser(inne)n verschiedenste Aspekte des Alltagslebens der Verfolgten anschaulich nahe gebracht.

Struktur
Wie schon aus der obigen kurzen Inhaltsbeschreibung erkennbar, ist der einzelbiographische Ansatz das Hauptcharakteristikum von Leben unterm Rassenwahn. Eine Stärke dieser Methodik liegt unzweifelhaft in der Authentizität der Vorgänge, die durch die Schilderung konkreter Ereignisse eindrücklicher die Realität des NS-Staates vermitteln als etwa abstrakte Statistiken oder juristische Abhandlungen. Das schon in der Einleitung formulierte Anliegen des Autors, "einige wenige jüdische Menschen sollen damit aus der Anonymität des Millionenheeres der vergessenen Opfer des nationalsozialistischen Antisemitismus herausgehoben werden" (S. 12), zeigt, dass es hierbei nicht nur um den exemplarischen Charakter des Einzelfalles geht, sondern dieser auch als stellvertretend für die zahllosen Menschen angesehen werden soll, deren Geschichte niemals erzählt werden wird.
Die Lückenhaftigkeit der Quellen - mit Ausnahme von Düsseldorf und Würzburg fehlt faktisch in allen deutschen Städten die für die Thematik zentrale Überlieferung der Gestapo - führt manchmal allerdings zwangsläufig zu nur fragmentarischen oder sehr kursorischen Lebensläufen. So muss etwa im Falle von Heinrich Wertheimer (S. 176 f.) und Hanns Götz (S. 208 ff.) sogar völlig offen bleiben, welches Schicksal die Betroffenen letztlich erlitten.
Geschickt montiert der Autor die notwendigen Informationen über die einschlägigen antisemitischen Gesetze des NS-Staates in den jeweiligen biographischen Kontext hinein, um deren Wirkung sogleich am konkreten Beispiel erläutern zu können. Umfangreichere Erläuterungen wie etwa den Überblick zum komplexen Thema der "Mischehen" (S. 155 ff.) stellt Selig den Schilderungen der Einzelfälle voran und ordnet diese damit in ihren juristischen und historischen Kontext ein. Demselben Zweck dient in der Einleitung ab S. 16 die Nennung der involvierten Behörden und Funktionäre mit einer kurzen Beschreibung ihrer Kompetenzen.
Am dichtesten erscheinen die Berichte immer dann, wenn sie sich mit der "Ausschaltung" oder "Arisierung" jüdischer Gewerbebetriebe beschäftigen. Die offensichtlich gut überlieferten Akten des Münchner Gewerbeamtes illustrieren in grellen Farben den vorauseilenden Gehorsam der mit "Judenangelegenheiten" befassten Beamten, ihre oft haarsträubend-haarspalterische Argumentation und die daraus erwachsende Verdrängung der Juden aus dem Erwerbsleben.
Der quellengesättigten Darstellung merkt man die lange praktische Arbeit des Autors im Archiv positiv an, ohne dass diese in Marginalien und Formalismen zu ersticken drohte. Dankenswerterweise werden die Nachweise als Fußnoten auf jeder Seite gebracht und nicht - wie leider immer noch viel zu häufig - als sperriger Apparat am Kapitel- oder gar Buchende. Zum hohen Nutzwert des Bandes tragen ebenso die differenzierten Register (Personen, Orte, Sachen, Münchner Straßen und Firmen) bei. Verzeihlich erscheint bei so viel gutem Willen zur leserfreundlichen Erschließung der gesammelten Informationen der Fauxpas, die unzweifelhaft in Nürnberg gelegene Gostenhofer Hauptstraße der Landeshauptstadt zuschlagen zu wollen.
Auffallend bei einem Buch, welches wesentlich aus Biographien besteht, ist das völlige Fehlen von Fotos der genannten Personen, ja von Fotos überhaupt. Zur Illustration werden lediglich einige Originaldokumente abgedruckt, was sicherlich nicht am Nichtvorhandensein von Bildern der Menschen, ihrer Geschäfts- und Wohnhäuser liegen kann.

Fazit
Seligs Buch ist dank seiner soliden Bearbeitung und seines Detailreichtums ein Muss für jede(n), der sich mit der jüdischen Geschichte und dem Nationalsozialismus in München beschäftigt. Durch die Einzelbiographien in Verbindung mit dem notwendigen historischen Hintergrundwissen sind seine Inhalte auch Nichtfachleuten zugänglich und somit besonders geeignet, den Spuren dieser Zeit selbst vor Ort nachzugehen. Angesichts dieser in der einschlägigen Monacensia-Literatur nicht selbstverständlichen Qualitäten ist es um so verwunderlicher, dass das Erscheinen des Bandes in der sonst bei dieser Thematik sehr sensiblen Münchner Medienszene nicht für mehr Aufsehen gesorgt hat. Letztlich wird aber Leben unterm Rassenwahn nicht nur seine Leser(innen) finden, sondern sich wegen seiner dargestellten Eigenschaften zu einem Standardwerk entwickeln.

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Autorin: Susanne Rieger

Datum: 04.05.2007

Titel: "Ich lebe! Das ist ein Wunder." Schicksal einer Münchner Familie während des Holocaust, herausgegeben vom Stadtarchiv München, München, Buchendorfer Verlag 2001, ISBN 3-934036-58-9.





Die Familie Blechner im Jahre 1938
(Foto aus dem besprochenen Band)

Inhaltlicher Überblick
Im vorliegenden Buch, herausgegeben vom Stadtarchiv München, werden anhand der Münchner Familie Blechner mit ihren vier Kindern exemplarisch die Schicksale ostjüdisch-deutscher Menschen vor, während und nach der NS-Zeit dargestellt.
Nach einer Einleitung von Anthony Blechner, der als Nachfahre der Holocaustgeneration in seiner Familie durch die Sammlung schriftlicher und mündlicher Zeugnisse die Grundlagen für das Werk schuf, und zwei allgemein gehaltenen Kapiteln über die Geschichte des Judentums in Galizien bzw. die Herkunft der Blechners sowie ihr Leben in München, wird jedem Familienmitglied ein eigenes Kapitel gewidmet: Der Verfolgung und Ermordung der Mutter Mina Blechner, der Emigration Jakob Blechners und seiner Frau in die Schweiz, die fast gescheiterte Flucht Oskar Blechners mit dem zur Rückkehr nach Europa gezwungenen Passagierdampfer "St. Louis" und sein Leben in England, Salo Blechners Odyssee durch die Lager der Nationalsozialisten, seine glückliche Befreiung in Bergen-Belsen und Auswanderung in die USA und schließlich Leon Blechners Emigration 1938 in die USA. Abgerundet wird "Ich lebe! Das ist ein Wunder." durch ein Kapitel über jüdische "Displaced Persons" in Nachkriegsdeutschland und einen Epilog von Anthony Blechner, in dem er von seiner virtuellen 'Familienzusammenführung' im Internet berichtet.

Strukturelle Merkmale
Ein Charakteristikum des Buches ist die Tatsache, dass die einzelnen Kapitel von unterschiedlichen Autorinnen geschrieben wurden, genauer gesagt Studentinnen des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der Reiz dieses Prinzips besteht in der Vermittlung unterschiedlicher Sichtweisen, seine Schwäche in der Erzeugung von Redundanz, da oftmals der schon zuvor gesponnene Faden in einer Kurzbiographie wieder aufgenommen werden muss, um den Abschnitt zu einem geschlossenen Ganzen zu machen, etwa in der mehrfachen Schilderung der missglückten Flucht der Eltern Blechner und ihres Sohnes Salo in die Schweiz (S. 55f., 158 und 186).
Dass die Problematik mehrerer Autorinnen und paralleler Einzelbiographien redaktionell schwer in den Griff zu bekommen ist, belegt auch das Gegenteil der Wiederholung, nämlich die Aufteilung inhaltlich zusammengehörender Themenkreise. Das für die Schicksale der Familienmitglieder zentrale Ereignis des Aufenthaltsverbots für Juden polnischer Staatsangehörigkeit vom Oktober 1938 wird in zwei Kapiteln (S. 45 und 51) dargestellt. Leser(innen) ohne einschlägige Vorkenntnisse erhalten erst nach der Lektüre beider Abschnitte einen Überblick über die Geschehnisse, denn sie enthalten jeweils neue Informationen.
Misslich sind zuletzt auch die unpraktischerweise als Endnoten angebrachten Quellennachweise, deren Zählung nicht durchläuft, und das Fehlen eines Registers.

Quellenkritik und Stil
Die umfangreiche, in Überlieferungsdichte und Informationswert schier atemberaubende Korrespondenz der Familienmitglieder und die zahlreichen Fotos, die Anthony Blechner sammelte und den Münchner Forscher(inne)n über das Stadtarchiv zur Verfügung stellte, sind ein Quellenfundus, wie er zum Leben vertriebener jüdischer Familien in Deutschland hier äußerst selten zugänglich ist. Meist spiegelt sich in der Verstreuung der Selbstzeugnisse über Länder und Kontinente die erzwungene Wanderschaft der Menschen, die oftmals auch zum Zerreißen der Familienbande führte.
Diese Fülle an individuellen Informationen, die auch sehr private, charakterliche und psychologische Aspekte berühren, machen einen besonders umsichtigen Umgang mit dem Quellenmaterial notwendig. Es bedarf der ergänzenden Berücksichtung allgemeiner Quellen und Literatur zur Thematik, ohne durch Faktenhuberei die Authentizität der Zeitzeugenberichte zu zerstören, andererseits aber auch einer gewissen professionellen Distanz, um nicht zum Wilderer in den Jagdgründen des Familienromans zu werden. Nicht immer konnten die Autorinnen diesen Versuchungen widerstehen, so etwa wenn Evelyn Safian zunächst die wachsende Ablehnung der US-Bevölkerung gegenüber jüdischen Immigranten und gar Ausschreitungen gegen sie referiert, um daraus den (etwas gewagten) Rückschluss zu ziehen, der Blechner-Sohn "Leon hatte seinen Brüdern und seiner Mutter nichts von diesen antisemitischen Ausschreitungen berichtet. Sicher wollte er sie nicht beunruhigen" (S. 187f.).
Auch die Notwendigkeit der mehrfachen (S. 150, 190) Erwähnung von Spannungen innerhalb der Familie und der "Schreibfaulheit" bestimmter Mitglieder darf wohl in Zweifel gezogen werden, da daraus bestenfalls die Erkenntnis gewonnen werden kann, dass es die in Familien üblichen gruppendynamischen Prozesse und Rollenzuweisungen auch unter den Vorzeichen von Verfolgung und Leid gibt.
Im letzten Kapitel, welches sich mit der Zeit nach 1945 befasst, wird schließlich aus nicht ganz einleuchtenden Gründen das bisherige Prinzip der kohärenten Schilderung der Ereignisse bzw. Einzelschicksale verlassen und nur mehr eine Aneinanderreihung von Zitaten aus den zahlreichen Quellen geboten, die teilweise bereits zuvor im Buch Verwendung gefunden hatten (z.B. S. 109 und 194, S. 112 und 195).

Fazit
Auch wenn manchmal die genannten Erscheinungen den Erkenntniswert und - nicht ganz unwichtig - die Lust aufs Weiterlesen schmälern, so sind doch die Lebensläufe der Blechners über ihren individuellen Charakter hinaus geeignet, die vielfältigen Aspekte der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik weit anschaulicher zu vermitteln als dies eine allgemeine und deshalb verallgemeinernde Darstellung kann, da man sich als Leser(in) dem Gefühl der Sympathie für die beschriebenen Menschen nicht entziehen kann. Verdienstvoll für die lokale Geschichtsforschung sind Zusammenstellung und Auswertung der vorhandenen Literatur zum jüdischen Leben in München.

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