In
diesem Buch wird erstmals in deutscher Sprache versucht, anhand objektiv
ausgewählter und aussagefähiger Quellen das prägende
Ereignis im Leben von über fünf Millionen Menschen darzustellen.
Angesichts dieses selbst gestellten - und erfüllten - Anspruchs
sind sein enzyklopädischer Umfang von 573 Seiten angemessen und
seine Schwächen nachsehbar.
Um zu zeigen, dass es hierbei nicht um abstrakte Statistik geht, sondern
menschliche Schicksale, ein Fall aus der archivischen Praxis, der dem
mit der komplexen Materie halbwegs Vertrauten fast noch unglaublicher
erscheint als dem Laien: Mehr als 60 Jahre nach Kriegsende, im Juni
2007, gelingt es einem mittlerweile in Österreich lebenden gebürtigen
Nürnberger, die ukrainische Magd, die als Zwangsarbeiterin während
des Zweiten Weltkriegs auf dem Bauernhof seiner Eltern im Knoblauchsland
diente und zugleich sein Kindermädchen war, in ihrer Heimat ausfindig
zu machen. Alles, was er zunächst von ihr wusste, waren ihr Vor-
und Familienname, Geburtsdatum sowie -ort und der Zeitpunkt ihrer Ankunft
in Deutschland. Die zuständigen deutschen Archive konnten diese
Angaben zwar präzisieren - schon das wegen der lückenhaften
Überlieferung eher die Ausnahme -, das dokumentarische „schwarze
Loch“ zwischen Befreiung und Repatriierung musste der Suchende
aber selbst durch Kontakte in die Ukraine schließen. Dass ihm
dies, noch erschwert durch den Namenswechsel bei der Verheiratung der
Frau, gelang, grenzt an ein Wunder.
Wie in „Der Weg zurück“ eingehend dargestellt, war
die „Filtration“, d.h. die möglichst lückenlose
Erfassung und geheimdienstliche Überprüfung der Repatrianten
(ehemalige Kriegsgefangene und Zivilarbeiter im deutschen Machtbereich)
eine Priorität der sowjetischen Behörden. Trotz vieler Unzulänglichkeiten
bei der Durchführung dieser Aufgabe entstanden so nach Regalkilometern
zählende Serien von Karteien und geschätzten 3,5 Millionen
Einzelfallakten, die jedoch heute wegen ihrer Verteilung auf regionale
KGB-Bestände, mangelnder Systematik und Ordnung und den in den
Nachfolgestaaten der UdSSR geltenden Rechtsvorschriften nur selten zugänglich
sind. Und auch die Betroffenen legten vor dem Beginn der deutschen Entschädigungszahlungen
für ehemalige Zwangsarbeiter seit dem Jahr 2000 keinen Wert darauf,
als solche öffentlich in Erscheinung zu treten, da „Kriegsgefangenschaft
bzw. Zwangsarbeit in Deutschland […] als Makel in der Biographie
[galten], den der Betreffende regelmäßig zu verbergen trachtete“
(S. 23) und sie ihre Verschleppung zuhause oft zu Außenseitern
gemacht hatte, die zusätzlich zum Kriegstrauma ihr Leben lang unter
Misstrauen, Geringschätzung und beruflichen Nachteilen zu leiden
hatten.
Wie es zu dieser doppelten Opferrolle der Sowjetbürger kam, stellt
„Der Weg zurück“ unter Berücksichtigung der vielfältigen
politischen, militärisch-logistischen, völkerrechtlichen und
nicht zuletzt moralischen Aspekte ihrer Repatriierung dar. Dieses Vorhaben
konnte nur gelingen, weil die Vf.in über die doppelte Sprachfähigkeit
des Englischen und Russischen verfügt und sie damit gleichermaßen
die Quellen in Russland, Weißrussland und den USA sowie die einschlägige
fremdsprachige Forschungsliteratur verwenden konnte. Hinzu kommt der
geschichtliche Kairos, dass zum Zeitpunkt ihrer Recherchen bis Mitte
der 1990er Jahre die Benutzungspraxis in den russischen und weißrussischen
Archiven im Vergleich zu heute trotz Einschränkungen relativ liberal
war. Das Ergebnis ist ein Grundlagenwerk aus der Schule des Freiburger
Zwangsarbeitsexperten Ulrich Herbert, welches zusätzlich vom flüssigen
und gut lesbaren Schreibstil der Vf.in profitiert.
Gleich
zu Anfang wartet „Der Weg zurück“ mit einem Scoop auf,
der Klärung der Umstände des Todes von Jakov Dschugaschwili,
des Sohnes Stalins aus erster Ehe, der 1943 in der Gefangenschaft Selbstmord
beging, was die Vf.in anhand bisher unbekannter deutscher Beutedokumente
in US-Archiven beweist. Der Fall des prominentesten gefangenen Rotarmisten
wird aber nicht nur deswegen geschildert, sondern vor allem als Beweis
für die Wirkung der Befehle Stalins, insbesondere der Nr. 270 vom
16.08.1941, die Gefangengabe bei Bewusstsein mit Desertion und Vaterlandsverrat
gleichsetzten. Nicht einmal - oder nach „Uncle Joe’s“
zynischer Logik gerade nicht - sein eigener Sohn war vor den lebensgefährlichen
Konsequenzen dieser menschenverachtenden Bestimmungen sicher. Diese
Aussichten, noch verdüstert durch das wahrheitswidrige Ausschlachten
seiner Inhaftierung durch die Propagandamaschine der Nazis, trieben
den jungen Oberleutnant Dschugaschwili in den Tod.
Im folgenden, gut die Hälfte des Buches umfassenden ersten Hauptteil
(S. 33 - 383) legt die Vf.in den Schwerpunkt auf die Darstellung der
Spannungen bei der Repatriierung zwischen den amerikanischen und britischen
Alliierten einerseits und den Sowjets andererseits sowie die DP-Problematik
allgemein, wobei sie sich entsprechend den hierfür verwendeten
amerikanischen und sowjetischen Quellen meist auf der Makroebene von
Ministerien, militärischen Oberkommandos und Stäben, interalliierten
Gremien und der Diplomatie bewegt. Initiiert wurde die amtlich angeordnete
Völkerwanderung durch die bereits auf der Konferenz von Jalta im
Februar 1945 gemachte Zusage Roosevelts und Churchills, sämtliche
Sowjetbürger aus den von ihren Truppen befreiten Gebieten rückzuführen.
Wie die Vf.in überzeugend beweisen kann, war diese letztlich auch
Zwangsmaßnahmen einschließende Festlegung der Westmächte
begründet in der Rücksichtnahme auf die eigenen Kriegsgefangenen,
die sich noch im Bereich der vorrückenden Roten Armee befanden.
Wie das Schicksal der westalliierten Soldaten in der von Japan besetzten
Mandschurei zeigte (S. 350 - 361), die noch im August 1945 in die Hände
der Sowjets fielen, waren Bedenken hinsichtlich ihrer Behandlung nicht
unbegründet: Die Repatriierung der ca. 2000 Amerikaner, Briten
und Holländer, darunter auch Generale, zog sich bis zum November
1945 hin. Aber schon zuvor hatten die in Ostdeutschland befreiten amerikanischen
und britischen Soldaten gedroht, zum Faustpfand für Stalins Forderungen
in Bezug auf seine eigenen Landsleute zu werden.
Die Amerikaner und Briten waren schon seit dem D-Day mit den Massen
von Sowjetbürgern im deutschen Machtbereich konfrontiert, als in
kurzer Zeit tausende Ukrainer, Russen und Weißrussen in Wehrmachtsuniformen
in ihren Gewahrsam kamen. Im November 1944 füllten 19.500 von ihnen
die in England eingerichteten Sammellager. Weitere Kriegsgefangene wurden
in die USA verschifft.
Die schiere Menge, aber auch die praktische Schwierigkeit, wer als Sowjetbürger
zu gelten hatte, machte eine Präzisierung der Repatriierungsregelungen
nötig, die am 22.05.1945 im Abkommen von Halle fixiert wurde (S.
214). Seine Kernaussage lautete, dass Menschen, die aus Ländern
stammten, die erst nach dem 01.09.1939 zur Sowjetunion gekommen waren,
also primär Balten und Ostpolen bzw. Westukrainer, von der obligatorischen
Heimführung ausgenommen wurden. Für die Lokalgeschichte erklärt
diese Festlegung die Einrichtung des Valka-Lagers in Langwasser für
„Displaced Persons“ aus dem Baltikum, die nicht in ihre
jetzt im kommunistischen Machtbereich gelegenen Heimatländer zurückkehren
wollten.
So definiert übergaben die Westalliierten bis September 1945 gut
zwei Millionen Sowjetbürger der Roten Armee und dem Geheimdienst
NKVD, wobei die weit überwiegende Mehrheit der Repatrianten freiwillig
den titelgebenden „Weg zurück“ in die UdSSR antrat,
obwohl gerade die Kriegsgefangenen unter ihnen wissen mussten, was sie
dort erwartete. Schlagendster Beweis für den brennenden Wunsch
der Betroffenen nach einem Wiedersehen von Heimat, Familie und Freunden
waren die 100.000 Litauer, Esten und Letten sowie 50.000 Ostpolen, die
sich bis Ende März 1946 ohne äußeren Druck auf die Reise
nach dem Osten machten (S. 525).
Aus Sicht der Westalliierten war die Rückführung der Masse
der gefangenen und verschleppten Sowjetbürger im Jahre 1945 ein
Erfolg, für den sie erhebliche personelle und logistische Kapazitäten
zur Verfügung stellten. Als Probleme blieben ihnen der nicht-repatriierungswillige
Rest der DPs - und z.B. in der US-Besatzungszone bis zu ihrem regelrechten
Rauswurf im Mai 1949 die sowjetischen Repatriierungsoffiziere, die ursprünglich
die Rücktransporte mit organisieren und unter ihren Landsleuten
für eine Heimkehr werben sollten, deren Aktivitäten aber faktisch
zunehmend kontraproduktiv wirkten: Ihr Erscheinen in DP-Camps führte
zu Ausschreitungen der Insassen gegen sie und das Wachpersonal, ständige
Beschwerden über die Behandlung insbesondere durch die Amerikaner,
denen die versuchte Indoktrination der Sowjetbürger unterstellt
wurde, sowie Spionagetätigkeit diskreditierten die Repräsentanten
der Roten Armee und trugen ihren Teil zum Entstehen des Kalten Krieges
bei. Gleichzeitig trat im Westen ein Wandel in der öffentlichen
Meinung über die Repatriierungen in die Sowjetunion ein, nicht
zuletzt unter dem Einfluss antikommunistischer Emigrantenkreise. Dramatische
Ereignisse wie der vierzehnfache Massenselbstmord bei der zwangsweisen
Rückführung von ehemaligen Angehörigen der Wlasov-Armee
aus dem Internierungslager Dachau am 19.01.1946 und ihre Verbreitung
durch die Medien machten für die demokratischen Regierungen des
Westens eine Fortsetzung ihrer Auslieferungspraxis unmöglich -
und schufen als langfristige Hypothek die Problematik der unter falscher
Identität in die USA, Kanada und Großbritannien ausgewanderten
Kriegsverbrecher, deren Existenz erst in den 1990er Jahren in das Bewusstsein
der Öffentlichkeit trat.
An dieser Stelle muss ein grundlegender Kritikpunkt an „Der Weg
zurück“ angesprochen werden, eigentlich ein Luxusproblem,
das aber bisweilen die Aufnahmefähigkeit des Lesers auf eine harte
Probe stellt: Die Darstellung droht immer wieder an der schieren Masse
der gebotenen Information zu ersticken. Als willkürlich herausgepicktes
Beispiel hierfür kann der spannende Exkurs über die weitgehend
unbekannte, da später von der kommunistischen Propaganda in beiden
Ländern totgeschwiegene Beteiligung von Wlasov-Truppen an der Befreiung
Prags im April 1945 dienen. So faszinierend diese Episode in der Geschichte
des Zweiten Weltkriegs ist: Kaum ein Leser wird sie, versteckt in einer
fast halbseitigen Fußnote (S. 371 f.) angemessen rezipieren können.
Dem Forscher über diese höchst umstrittene antibolschewistische
Hilfstruppe Hitlers bleibt sie unbekannt - außer er stößt
mittels Google auf diese Rezension, was angesichts des enormen Recherche-
und Schreibaufwands der Vf.in mehr als bedauerlich ist.
Der
zweite Hauptabschnitt des Buchs (ab S. 385) schildert minutiös
die Filtration der Heimkehrer auf sowjetischer Seite und betritt damit
wissenschaftliches Neuland. Gestützt vor allem auf Akten aus russischen
Archiven werden die Organisationsstrukturen und der Weg der Repatrianten
von den interalliierten Übergabepunkten in die Filtrationslager
zur Überprüfung durch die sowjetische Spionageabwehr „Schmersch“
bis zu ihrem Weitertransport beschrieben. Dabei kam es in der Praxis
nicht nur wegen der mangelhaften organisatorischen Vorbereitung auf
die zurückströmenden Soldaten- und Arbeiterheere zu erheblichen
Friktionen: Die ursprünglich geplante strikte Trennung von Kriegsgefangenen
und ehemaligen Zwangsarbeitern verwischte sich, die drohende Versorgungskatastrophe
in den Lagern wurde nur durch eine von den Vorgaben erheblich abweichende,
improvisierende bis völlig chaotische Realität der Durchschleusung
abgewendet, durch die es gelang, bis 01.08.1945 von den zu diesem Zeitpunkt
in Sammellagern der Roten Armee bzw. des Geheimdienstes NKVD befindlichen
2,4 Millionen Insassen 550.000 in die Sowjetunion zu entlassen.
In den Lagern war das Verhältnis zwischen den Bewachungsmannschaften
und den Repatrianten gekennzeichnet von der Indoktrination der Soldaten,
die ihre heimkehrenden Landsleute mit Misstrauen und Verachtung ansahen.
Die Folge waren Willkürakte wie Vergewaltigungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen
und Anwendung unnötiger Gewalt, denen sich die Betroffenen durch
Flucht entzogen oder auf die sie ihrerseits mit Anschlägen auf
das Lagerpersonal reagierten. Ein planmäßig aufgebautes Spitzelsystem,
in dem gegenseitige Denunziationen oft durch das Versprechen einer beschleunigten
Heimkehr gefördert wurden, vergiftete das Klima zusätzlich.
Folgerichtig trat auch das offizielle Ziel der möglichst lückenlosen
Erfassung und Überprüfung der Repatrianten in den Hintergrund,
da sie, unter dem Generalverdacht der Kollaboration mit den Deutschen
und, soweit sie aus den westlichen Besatzungszonen kamen, der Sympathie
mit dem Klassenfeind standen, bestenfalls noch als disponibles Arbeitskräftepotenzial
klassifiziert wurden. Viele wurden kurzerhand von der Roten Armee als
Haus- und Küchenpersonal oder zum Einsatz bei Demontagen in der
sowjetischen Besatzungszone herangezogen, andere gerieten nach der Filtration
wegen politischer Unzuverlässigkeit in Arbeitsbataillone - eine
traumatische Erfahrung für die „Befreiten“.
Denen, die die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimatorte erhielten,
erging es oft nicht viel besser: Die über sie angelegten Akten
reisten ihnen voraus und vom Zeitpunkt ihrer Ankunft an standen sie
unter der Beobachtung der örtlichen NKVD-Stellen. Ihre Angaben
wurden mittels wiederholter Verhöre und Fragebögen nachgeprüft.
Wer durch das Filtrationssystem geschlüpft war, wurde nun nachträglich
durch die Geheimdienstmühlen des totalitären Staates gedreht,
wobei man vor psychischem Terror und der Androhung von Gewalt nicht
zurückschreckte. Die Verschärfung des Kalten Krieges führte
noch 1946/47 zu einer Verhaftungswelle von ca. 150.000 Repatrianten,
denen Westkontakte bzw. -propaganda zur Last gelegt wurden (S. 519).
Mit den Quellen und der neueren Forschungsliteratur resümiert die
Vf.in den menschenverachtenden Umgang des stalinistischen Staates mit
seinen Untertanen nicht als Ausdruck durch die Fakten geschaffener Schwierigkeiten,
sondern ideologisch vorbestimmten, bewussten Herrschaftsakt: „Die
Art der Vernachlässigung war [...] 'von der Staats- und Parteiführung
der Sowjetunion intendiert und stellte im Kern eine ungesetzliche Repression
von Millionen von Sowjetbürgern dar'“ (S. 483, Statement
der russischen Regierung von 1996). Oder anders ausgedrückt: Die
Repatrianten hatten, sobald sie wieder im sowjetischen Machtbereich
waren, keine Priorität mehr. Mit der Lösung ihrer persönlichen
Probleme, in erster Linie dem Wiederaufbau ihrer Existenz in einem vom
Krieg verwüsteten Land, und der weit über die Stalin-Ära
hinaus wirkenden Diskriminierung durch ihre Landsleute ließ man
sie allein. Erst ein Ukaz des Russischen Staatspräsidenten vom
24.01.1995 rehabilitierte diese Personengruppe formal und nahm 50 Jahre
nach Kriegsende entsprechend den historischen Tatsachen den Generalverdacht
des Vaterlandsverrats von ihr. Welche Auswirkungen dieses bürokratische
Kainsmal zuvor im Einzelfall auf die Schicksale der Heimkehrer gehabt
hatte, belegt im Buch eindrucksvoll ein Block mit Kurzbiografien von
Kriegsgefangenen, Zwangs- und Sklavenarbeitern, als dessen Grundlage
28 Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Insassen des KZ Bergen-Belsen
dienten, die im Jahre 1997 geführt werden konnten (S. 533 - 543).
Die späte Rehabilitierung der Opfer als Ursache und Folge der Nachkriegsgeschichte
wirft zwangsläufig die Frage nach der Entwicklung der wissenschaftlichen
Aufarbeitung des Themas auf, der sich die Vf.in auch stellt: In der
UdSSR bzw. Russland war es bis 1989 schlichtweg ein Tabu. Westliche
Forschungen litten unter der Unerreichbarkeit der sowjetischen Quellen
und der nach wie vor gegebenen ideologischen Belastung durch die Sichtweise
des Kalten Krieges, die z.B. bei der Bewertung des Umgangs mit den für
Wehrmacht und Waffen-SS angeworbenen Antibolschewisten bis heute auch
vor offenem Geschichtsrevisionismus nicht Halt macht. Die Vf.in plädiert
für ein differenziertes Urteil und führt als Argument dafür
überzeugend an, dass Selbstzeugnisse und amtliche Erhebungen eine
pauschale Verdammung der Betroffenen als skrupellose Opportunisten oder
mordlüsterne Desperados verbieten, da viele von ihnen Opfer des
stalinistischen Terrors gegen oppositionelle Gruppen oder ethnische
Minderheiten vor und während des Krieges geworden waren. Gleichzeitig
wehrt sie sich aber gegen eine durch einseitige oder unkritische Quellenauswahl
verzerrte Darstellung der Repatriierung einschließlich ihrer Vorgeschichte
und Folgewirkungen, insbesondere in den Arbeiten des russischen Autors
Pavel Polian (im Buch auch Poljan geschrieben, z.B. „Deportiert
nach Hause“ 2001).
Selbst kommt die Vf.in im Schlusskapitel ihrer Dissertation (S. 551
- 557) zu dem Fazit, dass der Verlauf der Rückführung der
Sowjetbürger aus dem Westen vor allem Ausdruck des Entfremdungsprozesses
zwischen den ehemaligen Verbündeten war. Obwohl der Austausch schon
im Sommer 1945, also deutlich vor dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges,
im wesentlichen abgeschlossen war, glaubte die Staats- und Militärführung
das Thema immer wieder zu paranoiden Rundumschlägen gerade gegen
die Amerikaner nutzen zu müssen, deren kontraproduktive Wirkung
noch durch den Dilettantismus ihrer Vertreter vor Ort verstärkt
wurde. Wie die Vf.in plausibel darlegt, stand hinter diesem irrationalen
Verhalten die panische, letztlich völlig unbegründete Angst
der Machthaber, dass durch den massenhaften Verbleib eigener Staatsbürger
im Westen ein Schatten auf den triumphalen Sieg und das Image ihres
Systems fallen könnte. Tatsächlich blieb die vergleichsweise
geringe Zahl von ca. 330.000 Menschen, die die Sowjets eigentlich für
sich reklamierten, als DPs im Westen zurück. Zu dem von der Vf.in
genannten Grund der - neutral ausgedrückt - konsequenten Rückführung
durch Amerikaner und Briten aus Rücksicht auf noch nicht repatriierte
eigene Kriegsgefangene kann sich der Leser von „Der Weg zurück“
seine eigenen Gedanken darüber machen, welch große Rolle
das schlichte Heimweh der mehrheitlich jungen Menschen bei ihrer folgenschweren
Entscheidung gespielt haben muss. Weiter muss berücksichtigt werden,
dass - anders als von den Sowjets permanent unterstellt - die Westalliierten
gar kein Interesse am Verbleib von Millionen DPs im Westen haben konnten,
da die Versorgung und Verwaltung des reichlich vorhandenen, nirgendwohin
'zurückschickbaren' menschlichen Strandgutes des Zweiten Weltkriegs
- Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Ostgebieten, Evakuierte
aus den zerbombten Städten und überlebende jüdische KZ-Häftlinge,
um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen - nicht die Notwendigkeit aufkommen
ließen, sich durch aktive Werbung unter Russen, Ukrainern usw.
ein weiteres Problem an den Hals zu schaffen. Für das Vorhandensein
dieser Einstellung spricht auch die im Buch dokumentierte Praxis, für
die verbliebenen DPs aus dem sowjetischen Machtbereich so schnell wie
möglich Aufnahmeländer zu finden, um so die Ressourcen im
zerstörten Deutschland zu entlasten.
Absolut in der Formulierung korrektur- und danach diskussionswürdig
erscheint die These, die die Vf.in, orientiert an angelsächsischer
Literatur, auf S. 551 aufstellt: „Der damit [= Selbstverpflichtung
der Westalliierten zur Übergabe sämtlicher Sowjetbürger]
verbundene und zeitlich begrenzte Verzicht der Westalliierten auf eine
breite Anwendung ihres Asylrechts leistete zudem einen Beitrag dazu,
dass möglicherweise [sic] ein neues Minderheitenproblem in Europa
entstand.“ Wie die Arbeit nachweist, war genau das Gegenteil der
Fall, es entstand kein gravierendes neues Minderheitenproblem
und wäre angesichts der Heimatliebe der betroffenen Menschen wohl
auch dann nicht entstanden, wenn man ihnen die freie Wahl gelassen hätte.
Doch selbst wenn eine deutlich größere Menge von ihnen im
Westen geblieben wäre, hätte man das Ergebnis niemals mit
der historisch gewachsenen ethnischen Gemengelage in Osteuropa vor 1939
vergleichen können, deren 'Bereinigung' in den rassistischen Vernichtungs-
und Vertreibungsaktionen Nazideutschlands, den „Umsiedlungen“
ganzer Völkerschaften in der Sowjetunion unter dem Vorwand ihrer
politischen Unzuverlässigkeit und der Vertreibung und Verschleppung
der deutschen Minderheiten aus den neuen Satellitenstaaten der UdSSR
Millionen von Todesopfern forderte. Man darf diese Staatsverbrechen
nicht nachträglich - in Zeiten eines interkulturellen gesellschaftlichen
Leitbildes! - wegen ihrer vermeintlich wünschenswerten Ergebnisse
in ein günstigeres Licht rücken, um der westalliierten Repatriierungspolitik
positive Aspekte abzugewinnen. Dies geht an den historischen Realitäten
vorbei, ist argumentativ unnötig und wäre angesichts des dann
stattgehabten Bruchs gleich zweier unveräußerlicher Menschenrechte,
des der freien Wahl des Aufenthaltsortes und des Asylrechts, wie sie
1948, nur drei Jahre nach Kriegsende, in der Erklärung der Vereinten
Nationen formuliert wurden, ein äußerst schwacher Trost.
Unumstritten und in Darstellung und Wertung der Kern der mehr als anerkennenswerten
Leistung der Vf.in ist die stalinistische Filtrationspraxis mit ihren
über Jahrzehnte weiterwirkenden Konsequenzen für das Individuum
(S. 531): „Das Versäumnis der sowjetischen Staats- und Parteiführung,
die Basis für einen raschen Wiederaufbau zu legen und damit Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass die aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrenden
Menschen so schnell wie möglich in die Gesellschaft eingegliedert
und somit tatkräftig an der Rückkehr des Landes zur Normalität
mitwirken konnten, hatte erhebliche ökonomische Folgen und weist
auf eine Prioritätensetzung im Kreml hin, der seinen Generalverdacht
gegen die 'Repatrianten' und die 'Bevölkerung in den ehemals besetzten
Gebieten' nicht hintanzustellen gedachte. Dem ideologisch motivierten
Vorbehalt wurde Vorrang eingeräumt vor den notwendigen Weichenstellungen
für die Zukunft.“
In einer hier erstmals gezogenen zahlenmäßigen Bilanz (S.
549) - für sich genommen ein großes Verdienst - ergibt sich
die niederschmetternde Summe von 3,07 Millionen Menschen, die wegen
der Zugehörigkeit zum Personenkreis der militärischen und
zivilen Repatrianten Repressionsmaßnahmen der Staatsmacht unterworfen
waren, also 57 % aller Heimkehrer (5,35 Millionen; beim hierfür
angegebenen Stand vom 01.03.1945 dürfte es sich um einen Lapsus
handeln, wahrscheinlicher ist 1946). Das Spektrum reichte von der Zwangsarbeit
bis zum Einsatz in militärischen Strafbataillonen.
Erkenntniswert
und Zugänglichkeit solch bahnbrechender Forschungsergebnisse werden
leider durch Unzulänglichkeiten geschmälert, die mit Hilfe
eines aufmerksamen Lektorats in einer dem Werk unbedingt zu wünschenden
zweiten Auflage unschwer abzustellen wären. Hierzu zählen
in erster Linie ein den gebotenen Informationsschatz erschließendes
Register, ein differenzierterer Quellennachweis und ein Verzeichnis
gerade der russischsprachigen Abkürzungen. Das Gedächtnis
des Lesers entlasten helfen würde ein tabellarischer Anhang, der
die je nach Quelle häufig massiv von einander abweichenden statistischen
Angaben synoptisch zusammenfasst. Schließlich sollten im Interesse
der Darstellung und ihrer Rezipienten die Fußnoten formal und
inhaltlich einer kritischen Prüfung unterzogen und im Zweifelsfalle
wesentlich reduziert werden. Und die eine oder andere Abbildung böte
dem lesenden Auge eine optische Abwechslung. Doch schon in der vorliegenden
Form führt künftig an „Der Weg zurück“ für
den kein Weg vorbei, der sich ernsthaft mit Themen wie der DP-Problematik
oder der sowjetischen Repatriierungspraxis beschäftigen will.